Kaskoversicherung: Totalschadenbewertung und Neupreisklausel
OLG Hamm, Hinweisbeschluss vom
24.06.2021 - 20 U 96/21 -
Kurze Inhaltsangabe:
Der Kläger unterhielt bei der Beklagten eine Vollkaskoversicherung, die er anlässlich eines Totalschadens des versicherten Pkw in Anspruch nahm. Dabei begehrte er eine Neurpeisentschädigung.
Diese besagte nach den Versicherungsbedingungen, dass der Versicherer anstelle des Widerbeschaffungswertes den Neupreis zahlt, wenn der Versicherungsfall (Totalschaden oder Verlust) innerhalb von
36 Monaten nach Erstzulassung eintritt. Allerdings wurde in der Klausel nicht ausgeführt, wann ein Totalschaden vorliegt. Der Vertrag verwies auf die Allgemeinen Bedingungen für die
Kfz-Versicherung (AKB), nach deren Ziffer 1.5.1 (2) ein Totalschaden vorliegt, wenn die erforderlichen Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert übersteigen.
Das Landgericht wies die Klage ab und das OLG wies in seinem Hinweisbeschluss darauf hin, dass es beabsichtigte, die zulässige Berufung als unbegründet zurückzuweisen. Ein bedingungsgemäßer
Totalschaden läge nicht vor, der den Ersatz des Neupreises begründe.
Nach einem Schadensgutachten würden sich die Reparaturkosten auf € 17.142,55 belaufen. Der Wiederbeschaffungswert sei aber mit € 22.500,00 ausgewiesen, läge mithin über den Reparaturkosten. Damit
bestand auch nach Haftpflichtgrundsätzen kein wirtschaftlicher Totalschaden. Nicht entscheidend sei, ob ein sogen. Unechter Totalschaden vorliegt, bei dem die Schadensbehebung im Wege der
Reparatur zwar geringere Kosten als eine Ersatzbeschaffung verursache, dem Geschädigten aber die Reparatur nicht zuzumuten sei. Allerdings folge das Schadensersatzrecht anderen rechtlichen
Prämissen als das hier anwendbare Versicherungsvertragsrecht, welches hier anwendbar ist. Während im Schadensersatzrecht der Geschädigte nach § 249 Abs. 2 BGB die Möglichkeit habe die
Schadensbehebung in die eigenen Hände zu nehmen, ließe sich dies auf den Kaskoversicherungsvertrag nicht unmittelbar übertragen.
Entscheidend sei daher für die Bewertung als bedingungsgemäßer Totalschaden die Auslegung der Versicherungsbedingungen. Diese seien so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis
bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstünde. Abzustellen sei dabei auf einen
Versicherungsnehmer ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse. Entscheidend sei zunächst der Wortlaut, der mit dem Bedingungswerk verbundene Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln
(soweit für den Versicherungsnehmer erkennbar) seien zusätzlich zu berücksichtigen.
Danach würde sich hier für diesen durchschnittlichen Versicherungsnehmer, der die maßgeblichen Versicherungsbedingungen (hier in den AKB) mit dem Begriff des Totalschadens verbindet, ohne
weiteres ergeben, dass dieser Begriff losgelöst von den Grundsätzen des Haftpflichtrechts geregelt sei.
Aus den Gründen:
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.
Es wird Gelegenheit gegeben, binnen drei Wochen Stellung zu nehmen.
Gründe
I.
Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, weder die Fortbildung des Rechts noch
die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung erfordern und eine mündliche Verhandlung auch sonst nicht geboten ist.
Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Berufungsangriffe des Klägers aus der Berufungsbegründung vom 22. Juni 2021 (Bl. 37 ff. der elektronischen Gerichtsakte
II. Instanz) greifen nicht durch.
1.
Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Neupreisentschädigung nicht zu, da es an einem bedingungsgemäßen Totalschaden im Sinne der im Versicherungsschein vom 12. November 2019
vereinbarten Klausel zur Neupreisentschädigung fehlt.
Nach ihr verspricht der beklagte Versicherer, im Schadensfall anstelle des Wiederbeschaffungswertes den Neupreis zu zahlen, wenn innerhalb von 36 Monaten nach Erstzulassung des Fahrzeugs ein
Totalschaden oder der Verlust des Fahrzeugs eintritt. Über die Frage, wann von einem bedingungsgemäßen Totalschaden in diesem Sinne auszugehen ist, trifft die Klausel selbst keine nähere
Regelung. Sie verweist lediglich auf weitere Erläuterungen einer - nicht aktenkundigen - "Zusatzvereinbarung Premium". Im Übrigen ist in dem Vertrag vereinbart die Geltung der - vorgelegten -
AKB.
Nach der - insoweit eindeutigen - Definition in den zugrunde liegenden AKB der Beklagten kommt es in der Kaskoversicherung zu einer Totalschadenabrechnung erst, wenn nach
Ziff. 1.5.1 (2) des Leistungsbausteins Kasko die erforderlichen Reparaturkosten den Wiederbeschaffungswert übersteigen. Dass diese Voraussetzungen hier nicht vorlagen, hat das
Landgericht zutreffend festgestellt und wird auch von der Berufung nicht in Zweifel gezogen. Nach dem Schadengutachten vom 24. Juni 2020 (Bl. 88 ff. der elektronischen Gerichtsakte I.
Instanz) beliefen sich die erforderlichen Reparaturkosten auf brutto 17.142,55 EUR und lagen damit unterhalb des Wiederbeschaffungswertes von brutto 22.500 EUR. Auch nach
Haftpflichtgrundsätzen bestand damit - anders als der Kläger geltend macht - kein sog. wirtschaftlicher Totalschaden. Demgegenüber kommt es nicht auf die Frage an, ob nach den Gesichtspunkten des
Schadensersatzrechts von einem sog. "unechten" Totalschaden auszugehen ist, bei dem die Schadensbehebung im Wege der Reparatur zwar geringere Kosten verursacht als eine Ersatzbeschaffung, die
Reparatur jedoch dem Geschädigten nicht zuzumuten ist (vgl. zu Einzelheiten Piontek in Filthaut/Piontek/Kayser, Haftpflichtgesetz 10. Aufl. § 10 Rn. 12).
Ohnehin aber folgt das Schadensersatzrecht anderen rechtlichen Prämissen als das im Streitfall maßgebliche Versicherungsvertragsrecht. Es ist von der Erwägung getragen, dass der Gesetzgeber dem
Geschädigten in § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB die Möglichkeit eingeräumt hat, die Schadenbehebung gerade unabhängig vom Schädiger in die eigenen Hände zu nehmen und in eigener Regie
vorzunehmen. Die für das Haftpflichtrecht entwickelten Maßstäbe können deshalb auf die Beziehung der Parteien des Kfz-Kaskoversicherungsvertrags jedenfalls nicht unmittelbar übertragen werden
(vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 14. April 2021 - IV ZR 105/20, VersR 2021, 761 Rn. 21 mwN).
Demgemäß entscheidet über die Frage, ob eine bedingungsgemäßer Totalschaden vorliegt, allein die Auslegung der vereinbarten Versicherungsbedingungen. Insoweit gelten die allgemeinen Maßstäbe des
Versicherungsvertragsrechts. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei
verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers
ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der
Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urteil vom 14. April 2021 aaO Rn. 22).
Hieran gemessen wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer neben dem Wortlaut der Klausel für die Neupreisentschädigung hinsichtlich des Begriffs "Totalschaden" die für den Versicherungszweig
der Kaskoversicherung maßgeblichen Versicherungsbedingungen in den Blick nehmen und erkennen, dass der Begriff dort eindeutig und losgelöst von den für das Haftpflichtrecht maßgeblichen
Grundsätzen eigenständig definiert ist.
Dass sich aus der "Zusatzvereinbarung Premium" etwas anderes - insbesondere eine von den zugrunde liegenden AKB abweichende und die Eintrittspflicht des Versicherers erweiternde Definition des
Begriffs - ergibt, hat der für die Voraussetzungen der geltend gemachten Entschädigungsleistung als Versicherungsnehmer darlegungsbelastete Kläger bereits nicht behauptet.
2.
Auch einen Schadensersatzanspruch des Klägers hat das Landgericht zu Recht verneint.
Der Kläger hat bereits nicht dargetan, dass die Mitarbeiterin der Beklagten konkrete Erklärungen dahin abgegeben hat, ihm stünden gerade in Ansehung der Neupreisentschädigungsklausel
Leistungsansprüche zu, die über den konkret vereinbarten Vertragsinhalt hinausgehen. Die allein behauptete Erklärung, die "Versicherung greife", ist für sich genommen zutreffend.
Selbst wenn man aber die Voraussetzungen einer Haftung der Beklagten aufgrund der Erklärung unterstellen wollte, fehlt es hinsichtlich des Schadens an einem Beweisangebot des Klägers dafür, dass
er sich für eine Reparatur des Fahrzeugs entschieden hätte. Auf eine Vermutung beratungsgerechten Verhaltens kann sich der Kläger nicht berufen. Sie kommt nicht in Betracht, wenn nicht nur eine
einzige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte, sondern - wie hier - nach pflichtgemäßer Beratung verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht gekommen wären, die
unterschiedliche Vorteile und Risiken in sich geborgen hätten (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 2012 - IX ZR 125/10, BGHZ 193, 193 Rn. 36 mwN). Der Kläger sei hierzu auch darauf hingewiesen, dass
auch eine Reparatur (und Weiternutzung des Fahrzeugs) natürlich nichts daran geändert hätte, dass ein Anspruch gegen die Beklagte auf weitere Zahlung bis zum Neupreis nicht entstanden wäre. Der
geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von 7.626,36 EUR (Differenz Neupreis zu Wiederbeschaffungswert) besteht von vornherein nicht.
II.
Auf die Gebührenermäßigung für den Fall der Berufungsrücknahme (KV Nr. 1222 GKG) wird hingewiesen.