Arglistige Obliegenheitspflichtverletzung in der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung
bei unerlaubtem Entfernen vom Unfallort
LG Osnabrück, Urteil vom
26.03.2020 - 9 S 166/19 -
Kurze Inhaltsangabe:
Der Kläger ist Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer eines Fahrzeugs der Großmutter des (als Fahrer mitversicherten) Beklagten, der mit dem Fahrzeug an einem Verkehrsunfall beteiligt war. Beim
Überholen touchierte der Beklagte mit seinem Fahrzeug das Fahrzeug des Überholten und setzte seine Fahrt fort. Der Beklagte wurde wegen unerlaubten Entfernend vom Unfallort in der Folge
strafrechtlich verurteilt. Der Kläger, der gegenüber dem Unfallgegner dessen Sachschaden ausgleichen musste, forderte von dem Beklagten die verauslagten € 2.162,26. Streitig war, ob eine
Obliegenheitspflichtverletzung des Beklagten aus dem versicherungsvertrag heraus vorlag, da der Beklagte sich unerlaubt vom Unfallort entfernte und erst nach 11 Stunden als Täter hätte ermittelt
werden können.
Während das Amtsgericht die Klage abwies, wurde auf die Berufung des Klägers hin der Klage stattgegeben. Dabei stellte das Landgericht darauf ab, dass nach § 28 Abs. 3 S. 2 VVG der Versicherer
nicht zur Leistung verpflichtet sei, auch wenn die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt des Versicherungsfalls oder dessen Feststellung ursächlich sei, wenn der Versicherungsnehmer die
fragliche Obliegenheit arglistig verletzt habe. Diese Arglist läge vor. Sie verlange keine Bereicherungsabsicht des Versicherungsnehmers. Ausreichend sei es, dass der Versicherungsnehmer
billigend in Kauf nähme, dass sein Verhalten den Versicherer bei der Schadensregulierung möglicherweise beeinflussen könnte (BGH, Urteil vom 22.06.2011 - IV ZR 174/09 -). Auch wenn nicht bereits
jedes unerlaubtes Entfernen vom Unfallort als Arglist im Hinblick auf versicherungsrechtliche Obliegenheiten angesehen werden könne, es vielmehr auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls
ankäme, und der Versicherer die Beweislast für das Vorliegen von Arglist habe, müsse hier davon ausgegangen werden.
Das Landgericht leitete die Arglist des Beklagten aus dessen Verhalten gegenüber den Ermittlungsbehörden und den Fahrweg des Beklagten nach dem Unfall ab:
Habe er zunächst am Unfalltag gegenüber den Ermittlungsbehörden den Unfall eingeräumt, habe er ihn am nächsten Tag in Abrede gestellt. In der Hauptverhandlung im Strafverfahren habe er erst
angegeben, nichts bemerkt zu haben und nach einer Unterbrechung des Verfahrens angegeben, dass er nervös geworden sei und deswegen weitergefahren sei.
Weiter sei der Streckenverlauf der Weiterfahrt nach dem Unfall zur Schulde des Beklagten, wohin er wollte, nicht plausibel. Der Streckenverlauf deute darauf, dass er versucht habe, seinen
Verfolger (den Geschädigten) abzuhängen.
Nicht entschuldigen könne den Beklagten der von ihm behauptete anwaltliche Rat, sich nicht bei der Ermittlungsbehörde zu melden; er sei sich seiner Verpflichtung letztlich bewusst gewesen, sich
als beteiligter den Ermittlungsbehörden gegenüber zu offenbaren.
Bei dieser Situation, bei der nach § 286 ZPO ein Grad an Gewissheit erreicht sei, der Zweifeln Schweigen gebiete, müssen von einer vorsätzlichen Obliegenheitspflichtverletzung ausgegangen werden,
da der Beklagte billigend in Kauf genommen habe, dass sein Verhalten die Schadensregulierung beeinflussen könne. Der Nachweis der arglistigen Obliegenheitsverletzung sie erbracht.
Aus den Gründen:
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts Osnabrück vom 2. Mai 2019, Geschäftszeichen 53 C 3075/18, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.162,26 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7. Juli 2018 zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen trägt der Beklagte.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Die Parteien streiten über das Bestehen eines Zahlungsanspruches aus einer
Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung.
Für das Fahrzeug der Marke Volkswagen, Modell Golf, amtliches Kennzeichen
…, besteht bei dem Kläger eine Haftpflichtversicherung. Versicherungsnehmer ist der Beklagte. Dem Versicherungsverhältnis liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung, im
Folgenden AKB, zugrunde. Der Beklagte war mit dem vorbenannten Fahrzeug am 25. Oktober 2017 in O. in einen Verkehrsunfall verwickelt. Bei diesem Verkehrsunfall wurde ein weiteres Fahrzeug der
Marke Toyota, Modell Yaris, amtliches Kennzeichen …, welches von Herrn P. geführt wurde, beschädigt.
Der Verkehrsunfall ereignete sich wie folgt: Der Herr P. fuhr mit seinem Fahrzeug vor dem Beklagten die Straße M. in Fahrtrichtung Z. Der Beklagte überholte das vor ihm fahrende Fahrzeug. Hierbei
touchierte er das Fahrzeug des Herrn P. An dem Fahrzeug des Herrn P. entstand ein Sachschaden. Der Beklagte fuhr weiter.
Herr P. zeigte gegen Mittag des 25. Oktober 2017 den Vorfall bei der Polizei an. Gegen Spätnachmittag/ Abend nahm die Polizei Kontakt mit dem Beklagten auf. Der Beklagte wurde am 26. März 2018
von dem Amtsgericht O., Jugendrichter, wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort sowie einer Verkehrsordnungswidrigkeit zu einer Geldzahlung verurteilt.
Der Kläger fordert von dem Beklagten die Kosten, welche er gegenüber Herrn P. erbrachte:
Reparaturkosten
1.400,80 €
Sachverständigenhonorar
480,61 €
Kostenpauschale
25,00 €
Rechtsanwaltsgebühren
255,85 €
Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Beklagte eine Obliegenheitsverletzung begangen hat, da er sich unerlaubt vom Unfallort entfernte und erst 11 Stunden nach dem Unfall als Täter ermittelt
werden konnte.
Das Amtsgericht Osnabrück hat mit Urteil vom 2. Mai 2019 die Klage nach Anhörung des Beklagten sowie Vernehmung der Zeugen P., M., J. und S. abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass der Beklagte nicht
zu ihrer Überzeugung eine Obliegenheitsverletzung arglistig begangen habe. Dem Beklagten sei der Kausalitätsgegenbeweis gelungen. Die Obliegenheitsverletzung habe die Regulierung nicht nachteilig
beeinflusst.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Der Kläger meint, das Amtsgericht Osnabrück habe zu Unrecht eine arglistige Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit verneint. Die
Zeugenaussagen seien ferner nicht hinreichend gewürdigt worden.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des am 2. Mai 2019 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Osnabrück, Geschäftszeichen 53 C 3075/18, den Beklagten zu verurteilen, an ihn 2.162,26 € nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7. Juli 2018 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Das Gericht hat die Strafakte der Staatsanwaltschaft O. zu dem Geschäftszeichen … beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gegenseitig gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das angefochtene Urteil hat keinen Bestand, da es auf einer Rechtsverletzung beruht.
Der Beklagte haftet dem Kläger aus § 116 Abs. 1 S. 2 VVG in Verbindung mit Ziffern E.1.2, E.7.1, E.7.2, E.7.3 AKB, § 28 Abs. 3 VVG auf Rückzahlung von
2.162,26 €. Die Forderungshöhe ist von dem Beklagten nicht in Abrede gestellt worden.
Gemäß § 28 Abs. 3 VVG ist der Versicherer, auch wenn die Obliegenheit weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den
Umfang der Leistung des Versicherers ursächlich ist, nicht zu Leistung verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheit arglistig verletzt hat.
Das Amtsgericht hat zu Unrecht angenommen, der Kläger habe nicht den Nachweis erbracht, dass der Beklagte arglistig die Obliegenheit verletzt habe.
Der Vorwurf der Arglist setzt keine Bereicherungsabsicht des Versicherungsnehmers voraus. Vielmehr genügt bereits das Bestreben, Schwierigkeiten bei der Durchsetzung berechtigter
Deckungsansprüche zu beseitigen. Arglistig handelt der Versicherungsnehmer schon dann, wenn er die Obliegenheit bewusst begeht und dabei billigend in Kauf nimmt, dass sein Verhalten den
Versicherer bei der Schadensregulierung möglicherweise beeinflussen kann, vgl. BGH VersR 2011, 1121.
Die Kammer teilt die Auffassung, welche in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten wird, wonach nicht jedes unerlaubte Entfernen vom Unfallort pauschal als Arglist im Sinne der
versicherungsrechtlichen Regelung zur Obliegenheit angesehen werden kann. Es sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls entscheidend, vgl. BGH, r + s 2013, 61.
Für das Vorliegen von Arglist ist der Versicherer, mithin der Kläger, beweispflichtig.
Ein Beweis ist gemäß § 286 ZPO erbracht, wenn das Gericht nach Durchführung der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme von der Richtigkeit der Tatsachenbehauptung überzeugt
ist. Dies erfordert keinen absoluten Grad an Gewissheit. Vielmehr ist ein solcher Grad an Gewissheit ausreichend, der Zweifeln Schweigen gebietet, vgl. Greger in Zöller, 33. Auflage 2020,
§ 286, Rdnr. 19.
Das Berufungsgericht ist zwar gemäß § 529 ZPO grundsätzlich an die Feststellungen des Amtsgerichts gebunden, es sei denn, es bestehen konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an deren
Richtigkeit und Vollständigkeit. Vorliegend hat das Amtsgericht die Angaben des Beklagten nicht hinreichend gewürdigt und hinterfragt.
Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Osnabrück spricht für ein arglistiges Verhalten des Beklagten sein Verhalten gegenüber den strafrechtlichen Ermittlungsbehörden. Nachdem er zunächst am
Unfalltag den Unfall und dessen Bemerken gegenüber den Polizeibeamten eingeräumt hat, hat er im Rahmen einer anschließenden Aussage vor der Polizei den Vorfall hingegen in Abrede gestellt. Im
Rahmen des Strafverfahrens hat der Beklagte zunächst angegeben, dass ihm nichts aufgefallen sei und er seine Fahrt fortgesetzt habe. Erst nach einer Unterbrechung des Verfahrens hat der Beklagte
eingeräumt, dass er nervös geworden sei und deswegen weitergefahren sei. Ihm tue sein Fehlverhalten leid. Er habe gemerkt, dass etwas geschürft habe.
Ebenfalls berücksichtigt die Kammer den Fahrweg, den der Kläger nach dem Unfall zur Schule genommen hat. Wie die Kammer im Rahmen des Termins zur mündlichen Verhandlung über die Berufung nach
Anhörung des Klägers mitgeteilt hat, ist ein solcher Streckenverlauf nicht plausibel nachvollziehbar. Nach Ansicht der Kammer belegt die Fahrstrecke vielmehr, dass der Kläger beabsichtigte,
seinen Verfolger, den geschädigten Herrn P., abzuhängen. Im Unterschied zur Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 28. Februar 2018, 20 U 188/17, ist auch nicht ersichtlich, dass der
Unfall von einem Dritten bemerkt worden ist und daher eine Verzögerung nicht zu befürchten ist. Darüber hinaus hat der Kläger sich auch nicht unmittelbar nach Schulschluss darum bemüht, seine
Beteiligung am Unfallgeschehen gegenüber den Ermittlungsbehörden aus eigenem Antrieb kundzutun.
Schließlich hat der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung angegeben, dass er Kontakt mit einem Rechtsanwalt aufgenommen hat. Er war sich mithin seiner Verpflichtung, gegenüber den
Strafermittlungsbehörden seine Beteiligung anzugeben, bewusst. Der ihm erteilte Rat, sich nicht zu melden, vermag dieses Fehlverhalten nicht zu entschuldigen.
In einer solchen Situation ist nach Ansicht der Kammer von einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung auszugehen. Nach Ansicht der Kammer hat der Beklagte auch billigend in Kauf genommen, dass
sein Verhalten die Schadensregulierung möglicherweise beeinflussen kann. Hierbei berücksichtigt die Kammer, dass der Kläger nicht Eigentümer des Fahrzeuges ist. Wie sich aus der Ermittlungsakte
der Staatsanwaltschaft O. ergibt, ist Eigentümerin des Fahrzeuges die Großmutter des Beklagten
Der Kläger hat mithin den Nachweis einer arglistigen Obliegenheitsverletzung erbracht.
Der Kläger ist daher zur Leistungskürzung berechtigt. Wie sich aus Ziffer E.7.3 AKB ergibt, ist eine solche Kürzung auf 2.500,00 € beschränkt. Die Höhe der streitgegenständlichen Forderung von
insgesamt 2.162,26 € ist daher von dieser „Deckelung“ nicht erfasst.
Ein vorheriger Hinweis an den Beklagten im Sinne der Regelung zu § 28 Abs. 4 VVG war dem Kläger nicht möglich, da es sich bei der streitigen Aufklärungspflicht um eine spontan zu
erfüllende Verpflichtung handelt.
Dem Kläger steht daher in der Hauptsache die streitgegenständliche Forderung in Höhe von 2.162,26 € zu.
Der Beklagte wurde aufgefordert, bis zum 6. Juli 2017 den eingeforderten Betrag zu zahlen. Seit dem Folgetag ist er folglich gemäß §§ 280, 286, 288 ZPO in Verzug.
Nach alledem ist das amtsgerichtliche Urteil aufzuheben und der Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.