Steuerrecht - Grundsteuergesetz


Grundsteuer nach Bundesmodell – Übermaßverbot und verfassungskonforme Auslegung

BFH, Beschluss vom 27.05.2024 - II B 78/23 (AdV) -

Kurze Inhaltsangabe:

 

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat eine Beschwerde gegen eine Entscheidung des FG Rheinland-Pfalz (siehe auf diesem Blog "Grundsteuer Rheinland-Pfalz: Neue Reglungen möglicherweise rechts- und verfassungswidrig"), mit der einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung aus einem Grundsteuerwertbescheid entsprochen worden war, zurückgewiesen. Allerdings erfolgte die Zurückweisung der vom Finanzamt eingelegten Beschwerde nicht aus verfassungsrechtlichen Erwägungen, sondern auf der Grundlage der materiellen Rechtmäßigkeit.

 

Grundlage war ein Grundsteuerwertbescheid in Rheinland-Pfalz. Die Ermittlung in Rheinland-Pfalz (wie auch in Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein) erfolgt nach dem Bundesmodell. Der BFH folgte zwar dem Finanzgericht darin, dass der angefochtene Bescheid ernstliche Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit aufwerfe und damit das Gericht der Hauptsache die Vollziehung des angefochtenen Bescheides nach § 69 Abs. 3 iVm. Abs. 2 FGO aussetzen könne. Ernstliche Zweifel würden bestehen, wenn neben Gründen für die Rechtmäßigkeit des Bescheides gewichtige Umstände gegen die Rechtsmäßigkeit zutage treten würden, die eine Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken würden. Bei der vorzunehmenden summarischen Prüfung sei von dem Vortrag der beteiligten und der Aktenlage auszugehen, wobei für die Gewährung der Aussetzung der Vollziehung (AdV) die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen müssten.

 

Vorliegend hatte der Senat nach dem Vortrag der Parteien und der Aktenlage lediglich einfachrechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides. Diese Zweifel würden sich aus der verfassungskonformen Auslegung der Bewertungsvorschriften ergeben, da danach die Möglichkeit eingeräumt werden müsse, dass bei einer Verletzung des Übermaßverbots die Möglichkeit gegeben werden müsse, einen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen.

 

Bei der Neureglung der Grundsteuer sei der Belastungsgrund nach der gesetzgeberischen Vorstellung die durch den Grundbesitz vermittelte Möglichkeit einer ertragsbringenden Nutzung, die sich im Sollertrag widerspiegelt und eine objektive Leistungsfähigkeit vermittle (BT-Drs. 19/11085, 84).

Die Besteuerung müsse den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen und das daraus folgende Übermaßverbot bei der Besteuerung beachten. Dass sei nur gewahrt, wenn gewährleistet ist, dass sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiert und den Sollertrag mittels einer verkehrswertorientierten Bemessungsgrundlage bestimme (BT-Drs. 19/11085, 90). Unterschiede im Einzelfall zum Wert nach §§ 217 ff BewG und dem gemeinen Wert müssten grundsätzlich hingenommen werden, solange ein Verstoß gegen das Übermaßverbot entweder durch verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift oder durch eine Billigkeitsmaßnahme abgewandt werden könne. Eine Verletzung des Übermaßverbots läge vor, wenn der vom Finanzamt festgestellte Wert den nachgewiesenen gemeinen Wert um 40% oder mehr übersteige (BFH, Urteil vom 16.11.2022 - II R 39/20 -).

 

Der Senat wies darauf hin, dass er bereits zu verschiedenen Bewertungsnormen entschieden habe, dass bei einem Ausschluss von Billigkeitsmaßnahmen in verfassungskonformer Auslegung der betreffenden Vorschriften der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das grundgesetzliche Übermaßverbot zuzulassen sei, wenn der Gesetzgeber einen solchen Nachweis nicht ausdrücklich geregelt habe. Bestünde diese Möglichkeit, seien die pauschalierenden und typisierenden Bewertungsvorschriften nicht verfassungswidrig.

 

Auch vorliegend sei nach dem Siebenten Abschnitt des Bewertungsgesetzes eine abweichende Wertfeststellung aus Billigkeitsgründen nicht vorgesehen (s. § 220 S. 2 BewG). Damit seien die vorgenannten Rechtsprechungsgrundsätze zu übertragen , weshalb ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestünden. Es sei nicht ausgeschlossen, dass dem Antragsteller im Hauptsacheverfahren der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts gelinge.

 

Vorliegend habe der Antragsteller Umstände vorgetragen, die einen erfolgreichen Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts für die gesamte wirtschaftliche Einheit mit der erforderlichen Abweichung zu dem im typisierten Verfahren festgestellten Grundsteuerwert im Hauptsacheverfahren möglich erscheinen ließen: Baujahr 1880 und schlechter Instandhaltungszustand wegen unterbliebener Renovierungen, weshalb dem Gebäude kein erheblicher Mehrwert beizumessen sei und die wirtschaftliche Einheit nur mit dem Bodenwert abzüglich etwaiger Freilegungskosten zu bewerten sei (sogen. Liquidationsobjekt). Es seien nach den Ausführungen auch Zweifel begründet, dass sich mit dem Gebäude im benannten Zustand die gesetzlich typisierten Mieterträge erzielen ließen, wie sie vom Finanzamt mit einem typisierten Reinertrag von € 3.635,28 bzw. kapitalisierten Reinertrag iHv. € 64.998,81 angenommen wurden.

 

Offen ließ der BFH, ob ein vom Finanzgericht angenommenes strukturelles Vollzugsdefizit bestünde, da nicht gewährleistet sei, dass die Gutachterausschüsse bei der Ermittlung des Bodenrichtwertes sämtliche wertbeeinflussenden Grundstücksmerkmale berücksichtigen würden. Denn – s.o. – der Antragsteller habe die Möglichkeit, den Nachweis eines geringeren gemeinen Wertes zu führen. Anmerkung: Das ist zwar in der Sache richtig, führt aber zu einer erheblichen Belastung des Steuerpflichtigen, der in Ansehung von Ungenauigkeiten der Gutachterausschüsse mit der Beweislast wie auch ggf. den Kosten (für das Gutachten) beschwert wäre, zudem eine Ungenauigkeit bis 40% hinzunehmen hätte.

 

Offen ließ der BFH auch, ob verfassungsrechtliche Zweifel ein einer gleichheitsgerechten Bewertung bestehen, da – so das Finanzgericht – im typisierten Bewertungsverfahren nach §§ 252 ff BewG nur eine unzureichende Differenzierung nach der Lage der Gebäude und der Größe des Grundstücks erfolge, da der Antragsteller vorliegend keine lage- oder größenbedingt unzutreffenden Wertfeststellungen gerügt habe.

 

 

BFH, Beschluss vom 27.05.2024 - II B 78/23 (AdV) -

 

Aus den Gründen:

 

Tenor

 

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 23.11.2023 - 4 V 1295/23 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.

 

Tatbestand

 

A.

 

Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) ist Eigentümerin des Grundbesitzes in X, X-Straße 123, Gemarkung X, Flur 456, Flurstück 789/10. Der Bodenrichtwert für das 351 qm große und mit einem Einfamilienhaus bebaute Grundstück betrug zum 01.01.2022 125 € pro qm.

 

In ihrer Erklärung zur Feststellung des Grundsteuerwerts vom 04.09.2022 gab die Antragstellerin als Art des Grundstücks "Einfamilienhaus" an, das erstmals vor 1949 bezugsfertig gewesen sei und über eine Wohnung mit einer Wohnfläche von 72 qm verfüge.

 

Mit Bescheid vom 28.12.2022 stellte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt --FA--) den Grundsteuerwert der wirtschaftlichen Einheit zum 01.01.2022 auf 91.600 € fest. Diesen Betrag ermittelte das FA gemäß § 250 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 252 Satz 1, § 230 des Bewertungsgesetzes (BewG) aus der Summe des kapitalisierten Reinertrags des Grundstücks und des abgezinsten Bodenwerts.

 

Bei der Bestimmung des kapitalisierten Reinertrags des Grundstücks nach § 253 Abs. 1 BewG setzte es als monatliche Nettokaltmiete gemäß Anlage 39 zum BewG den für Einfamilienhäuser mit Baujahr bis 1948 und einer Wohnfläche von 60 qm bis unter 100 qm geltenden Wert von 6,23 € pro qm an und nahm hiervon gemäß § 254 BewG i.V.m. Anlage 39 zum BewG einen Abschlag in Höhe von 10 % aufgrund der Mietniveaustufe 2 vor. Da die Restnutzungsdauer des vor dem Jahr 1949 bezugsfertigen Gebäudes gemäß Anlage 38 zum BewG weniger als sieben Jahre betrug, ging das FA von einer gemäß § 253 Abs. 2 Satz 5 BewG i.V.m. Anlage 38 zum BewG fingierten Restnutzungsdauer des Gebäudes von 24 Jahren (30 % von 80 Jahren) aus. Hieraus ergab sich ein Reinertrag des Grundstücks gemäß §§ 253, 254 BewG i.V.m. Anlage 39 zum BewG in Höhe von 3.635,28 € (= 5,61 € pro qm x 72 qm x 12 abzüglich Bewirtschaftungskosten in Höhe von 25 %) und ein kapitalisierter Reinertrag des Grundstücks gemäß § 253 BewG i.V.m. Anlage 37 zum BewG in Höhe von 64.998,81 € (= 3.635,28 € x 17,88).

 

Bei der Bestimmung des Bodenwerts legte das FA gemäß § 257 Abs. 1 Satz 1, § 247 BewG den erklärten Bodenrichtwert sowie gemäß § 257 Abs. 1 Satz 2 BewG i.V.m. Anlage 36 zum BewG einen Umrechnungskoeffizienten in Höhe von 1,10 für Grundstücke mit einer Größe von größer gleich 350 qm zugrunde. Ausgehend von einem Liegenschaftszins von 2,5 % für Einfamilienhäuser gemäß § 256 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BewG ermittelte es den abgezinsten Bodenwert mit 26.684,34 €, indem es gemäß § 257 Abs. 2 BewG den Bodenwert in Höhe von 48.262,50 € (= 351 qm x 125 € pro qm x 1,10) mit dem Abzinsungsfaktor gemäß Anlage 41 zum BewG in Höhe von 0,5529 multiplizierte.

 

Gegen den Bescheid vom 28.12.2022 legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Den Antrag auf AdV lehnte das FA am 27.01.2023 ab. Den gegen die Ablehnung der AdV eingelegten Einspruch wies es mit Einspruchsentscheidung vom 25.04.2023 als unbegründet zurück, da der festgestellte Grundsteuerwert und der Grundsteuermessbetrag zutreffend nach den gesetzlichen Regelungen ermittelt worden seien. Bei der Bewertung für Grundsteuerzwecke handele es sich um eine typisierte Bewertung, die keine individuelle Verkehrswertermittlung in Bezug auf das Objekt darstelle.

 

Die Antragstellerin stellte daraufhin einen Antrag auf AdV beim Finanzgericht (FG), den sie im Wesentlichen damit begründete, dass seit dem Baujahr des Einfamilienhauses im Jahr 1880 keine wesentlichen Renovierungen vorgenommen worden seien. Der festgestellte Grundsteuerwert sei daher gemessen am Wert des Hauses zu hoch.

 

Das FG hat mit Beschluss vom 23.11.2023 - 4 V 1295/23 die Vollziehung des Grundsteuerwertbescheids ausgesetzt und die Beschwerde zugelassen. Die Gründe sind in Entscheidungen der Finanzgerichte 2024, 93 mitgeteilt.

 

Gegen die vom FG gewährte AdV wendet sich das FA mit seiner Beschwerde.

 

Das FA beantragt, den Beschluss des FG vom 23.11.2023 - 4 V 1295/23 aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin auf AdV abzulehnen.

 

Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde des FA als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

 

B.

 

Die nach § 128 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das FG den angefochtenen Feststellungsbescheid über den Grundsteuerwert von der Vollziehung ausgesetzt.

 

I.

 

Zutreffend ist das FG von der Zulässigkeit des AdV-Antrags der Antragstellerin ausgegangen.

 

1. Zu Recht hat das FG insbesondere entschieden, dass der Finanzrechtsweg nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO eröffnet ist, da der Rechtsstreit eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit über eine Abgabenangelegenheit betrifft, die der Gesetzgebung des Bundes und der Verwaltung durch die Landesfinanzbehörden unterliegt.

 

a) Der vorliegende Streit über die Feststellung des Grundsteuerwerts betrifft eine Abgabenangelegenheit im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO (vgl. hierzu Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 33 Rz 19). Dies gilt auch, soweit sich die von der Antragstellerin erhobenen Einwände auf den für das streitgegenständliche Grundstück ermittelten Bodenrichtwert beziehen. Denn die Antragstellerin wendet sich nicht isoliert gegen den Bodenrichtwert als solchen, sondern begehrt die AdV des gegen sie ergangenen Wertfeststellungsbescheids, in den der Bodenrichtwert lediglich als eine Feststellungsgrundlage Eingang gefunden hat. Dem Rechtsstreit liegt daher, wie das FG zu Recht ausgeführt hat, bereits in formell-rechtlicher Hinsicht ein in einer Abgabenangelegenheit ergangener Bescheid zugrunde.

 

Für die Eröffnung des Finanzrechtswegs spielt es keine Rolle, ob die erhobenen Einwendungen gegen den Wertfeststellungsbescheid und dessen Feststellungsgrundlagen im Ergebnis durchgreifen oder nicht. Das gilt auch für die vom FG in diesem Zusammenhang geprüfte Frage, ob und wenn ja welche Einwendungen gegen die vom Gutachterausschuss festgestellten Bodenrichtwerte im finanzgerichtlichen Verfahren erhoben werden können. Denn dies betrifft nicht die Zulässigkeit des Rechtswegs, sondern ist eine Frage der Begründetheit des AdV-Antrags oder der Anfechtungsklage.

 

b) Die streitige Abgabenangelegenheit unterfällt auch der Gesetzgebung des Bundes im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO. Dem Bund steht nach Art. 105 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Grundsteuer zu, ohne dass dies an die weiteren Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG geknüpft ist (vgl. BTDrucks 19/11084, S. 6).

 

Art. 105 Abs. 2 Satz 1 GG ist durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 72, 105 und 125b) vom 15.11.2019 (BGBl I 2019, 1546) mit Wirkung zum 21.11.2019 und damit noch vor Inkrafttreten des Grundsteuer-Reformgesetzes vom 26.11.2019 (BGBl I 2019, 1794) eingefügt worden. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Gesetzgeber für die Neuregelungen des Grundsteuer-Reformgesetzes in der Begründung zum Gesetzentwurf auch auf die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 125a Abs. 2 Satz 1 GG gestützt hat, weil seiner Ansicht nach mit dem Gesetzentwurf fortgeltendes Bundesrecht lediglich fortgeschrieben werde und keine grundlegende Neukonzeption des Grundsteuerrechts beabsichtigt sei (vgl. BTDrucks 19/11085, S. 90).

 

Ebenso wenig steht es der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im vorliegenden Fall entgegen, dass der Bund den Ländern in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 GG das Recht zur Abweichungsgesetzgebung eingeräumt hat. Dabei kann dahinstehen, ob § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO auch dann eingreift, wenn ein Land auf der Grundlage von Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 GG abweichende landesgesetzliche Regelungen geschaffen hat (vgl. hierzu Krumm in Tipke/Kruse, § 33 FGO Rz 19a und 19b, m.w.N.). Denn der rheinland-pfälzische Landesgesetzgeber hat von seiner Abweichungsbefugnis in Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 GG keinen Gebrauch gemacht, sondern legt der Berechnung der Grundsteuer vielmehr das sogenannte Bundesmodell zugrunde.

 

c) Die streitige Abgabenangelegenheit unterliegt auch der Verwaltung durch die Landesfinanzbehörden im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO. Zwar hat der rheinland-pfälzische Landesgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 108 Abs. 4 Satz 2 GG in § 5 Abs. 1 Halbsatz 1 des Kommunalabgabengesetzes (KAG) geregelt, dass die Verwaltung der Grundsteuer den Gemeinden obliegt. Dies gilt jedoch nach § 5 Abs. 1 Halbsatz 2 KAG nicht für die Festsetzung und Zerlegung der Steuermessbeträge. Damit verbleibt es hinsichtlich der Festsetzung des Grundsteuermessbetrags und der dieser vorgelagerten Feststellung des Grundsteuerwerts bei der Verwaltungskompetenz der Landesfinanzbehörden gemäß Art. 108 Abs. 2 Satz 1 GG.

 

2. Der Zulässigkeit des Antrags auf AdV steht auch nicht ein fehlendes Rechtschutzbedürfnis der Antragstellerin entgegen.

 

Die Gewährung der AdV ist insbesondere nicht deshalb ausgeschlossen, weil der angefochtene Grundsteuerwertbescheid nach § 266 Abs. 1 BewG i.V.m. § 36 Abs. 1 des Grundsteuergesetzes erst für die Grundsteuer des Jahres 2025 von Bedeutung ist. Einwendungen gegen den Grundsteuerwert können nur durch einen Rechtsbehelf gegen den Grundsteuerwertbescheid geltend gemacht werden. Dies ergibt sich daraus, dass für das Feststellungsverfahren nach § 219 Abs. 1 BewG die Vorschriften über die Durchführung der Besteuerung sinngemäß gelten (§ 181 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung --AO--, vgl. auch Krumm/Paeßens, BewG § 219 Rz 5). Feststellungsbescheide sind nach § 182 Abs. 1 Satz 1 AO, auch wenn sie noch nicht unanfechtbar sind, für andere Feststellungsbescheide, für Steuermessbescheide, für Steuerbescheide und für Steueranmeldungen (Folgebescheide) bindend, soweit die in den Feststellungsbescheiden getroffenen Feststellungen für diese Folgebescheide von Bedeutung sind. Die Antragstellerin kann ihre Einwendungen, die sich auf die gesonderte Wertfeststellung beziehen, daher nicht im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen den Grundsteuerbescheid als Folgebescheid geltend machen (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25.09.2018 - II B 13/18, BFH/NV 2019, 25, Rz 8). Ein Sachverhalt, über den im Feststellungsverfahren entschieden worden ist, kann im Folgeverfahren nicht einer hiervon abweichenden Beurteilung unterworfen werden (vgl. BFH-Urteil vom 14.11.2018 - I R 47/16, BFHE 263, 393, BStBl II 2019, 419, Rz 14).

 

II.

 

Der Antrag der Antragstellerin auf AdV des Grundsteuerwertbescheids ist, wie vom FG erkannt, auch begründet.

 

1. Nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

 

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts sind zu bejahen, wenn bei einer summarischen Überprüfung des Bescheids neben für die Rechtmäßigkeit sprechende Umstände, gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im Verfahren der AdV gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (ständige Rechtsprechung seit dem BFH-Beschluss vom 10.02.1967 - III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, unter II.3.; vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 18.06.1997 - II B 33/97, BFHE 182, 379, BStBl II 1997, 515, unter II.1., m.w.N. und vom 11.08.2014 - II B 131/13, BFH/NV 2015, 5, Rz 10).

 

2. Der Senat hat einfachrechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 28.12.2022 in Bezug auf die Höhe des festgestellten Grundsteuerwerts.

 

a) Die Zweifel ergeben sich daraus, dass dem Steuerpflichtigen bei verfassungskonformer Auslegung der Bewertungsvorschriften die Möglichkeit eingeräumt werden muss, bei einer Verletzung des Übermaßverbots einen niedrigeren gemeinen Wert nachzuweisen.

 

aa) Der angefochtene Grundsteuerwertbescheid vom 28.12.2022 beruht auf den mit dem Grundsteuer-Reformgesetz im Siebenten Abschnitt des Bewertungsgesetzes neu eingefügten §§ 218 ff. BewG. Die Neuregelung der Bewertung für Zwecke der Grundsteuer war erforderlich, nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seinem Urteil vom 10.04.2018 - 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/24, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12 (BVerfGE 148, 147) die Einheitsbewertung nach dem Ersten Abschnitt des Bewertungsgesetzes für die Bemessung der Grundsteuer für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt und den Gesetzgeber bis zum 31.12.2019 zum Erlass einer Neuregelung aufgefordert hatte. Die als unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG festgestellten Regeln über die Einheitsbewertung durften nach der Entscheidung des BVerfG bis zu diesem Zeitpunkt, nach Verkündung einer Neuregelung für weitere fünf Jahre ab der Verkündung, längstens aber bis zum 31.12.2024 weiter angewandt werden (sogenannte Fortgeltungsanordnung).

 

bb) Die vom Gesetzgeber erlassenen Neuregelungen enthalten aus Gründen der Automatisierung und Bewältigung der Neubewertung von über 36 Millionen wirtschaftlichen Einheiten auf einen einheitlichen Hauptfeststellungsstichtag eine Vielzahl von Typisierungen und Pauschalierungen (vgl. BTDrucks 19/11085). Das BVerfG hat dem Gesetzgeber bei der Wahl der Bemessungsgrundlage und bei der Ausgestaltung der Bewertungsregelungen einen weiten Gestaltungsspielraum zugestanden, solange sie geeignet sind, den mit der Steuer verfolgten Belastungsgrund zu erfassen und dabei die Relation der Wirtschaftsgüter zueinander realitäts- und gleichheitsgerecht abzubilden. Der Gesetzgeber verfügt gerade in Massenverfahren der vorliegenden Art über einen großen Typisierungs- und Pauschalierungsspielraum (vgl. BVerfG-Urteil vom 10.04.2018 - 1 BvL 11/14, 1 BvL 12/24, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12, BVerfGE 148, 147, Rz 168, m.w.N.).

 

cc) Bei der Neuregelung der Grundsteuer hat der Gesetzgeber allein an das Innehaben von Grundbesitz und die damit verbundene (abstrakte) Leistungskraft angeknüpft, ohne dass es auf die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen, die Ausdruck seiner subjektiven Leistungsfähigkeit sein können, ankommt. Belastungsgrund ist nach der gesetzgeberischen Vorstellung die durch den Grundbesitz vermittelte Möglichkeit einer ertragsbringenden Nutzung, die sich im Sollertrag widerspiegelt und eine objektive Leistungsfähigkeit vermittelt (BTDrucks 19/11085, S. 84).

 

dd) Eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügende und das daraus folgende Übermaßverbot beachtende Besteuerung ist wegen dieser Belastungsgrundentscheidung des Gesetzgebers daher grundsätzlich nur dann gewährleistet, wenn sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiert und den Sollertrag mittels einer verkehrswertorientierten Bemessungsgrundlage bestimmt (vgl. auch BTDrucks 19/11085, S. 90). Soweit sich im Einzelfall ein Unterschied zwischen dem gemäß §§ 218 ff. BewG ermittelten Wert und dem gemeinen Wert ergibt, ist dies aufgrund der typisierenden und pauschalierenden Wertermittlung des Bewertungsgesetzes, die notwendigerweise mit Ungenauigkeiten verbunden ist, grundsätzlich hinzunehmen. Verfassungsgemäß ist solch eine typisierende Regelung aber nur solange, wie ein Verstoß gegen das Übermaßverbot im Einzelfall entweder durch verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift oder durch eine Billigkeitsmaßnahme abgewendet werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 02.07.2004 - II R 22/02, BFH/NV 2004, 1519, unter II.3.a, m.w.N.). Das Übermaßverbot kann insbesondere dann verletzt sein, wenn sich der festgestellte Wert als erheblich über das normale Maß hinausgehend erweist. Nach der bisherigen Senatsrechtsprechung setzt dies regelmäßig voraus, dass der vom Finanzamt festgestellte Wert den nachgewiesenen niedrigeren gemeinen Wert um 40 % oder mehr übersteigt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 16.11.2022 - II R 39/20, BFHE 279, 201, BStBl II 2024, 246, Rz 27 zu § 166 BewG).

 

ee) Der Senat hat zu verschiedenen typisierenden Bewertungsnormen entschieden, dass bei Ausschluss von Billigkeitsmaßnahmen in verfassungskonformer Auslegung der betreffenden Vorschriften der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das grundgesetzliche Übermaßverbot zuzulassen ist, wenn der Gesetzgeber einen solchen Nachweis nicht ausdrücklich geregelt hat (vgl. BFH-Urteile vom 05.05.2004 - II R 45/01, BFHE 204, 570, BStBl II 2004, 1036, unter II.4.; vom 02.07.2004 - II R 22/02, BFH/NV 2004, 1519, unter II.3.a; vom 29.09.2004 - II R 57/02, BFHE 207, 52, BStBl II 2004, 1041, unter II.; vom 08.06.2005 - II R 8/03, BFH/NV 2005, 2170, unter II.2.; vom 17.05.2006 - II R 58/02, BFH/NV 2006, 1804, unter II.2.; vom 22.01.2009 - II R 9/07, BFH/NV 2009, 1096, unter II.2.b; vom 22.01.2009 - II R 10/07, juris, unter II.2.b und vom 11.12.2013 - II R 22/11, BFH/NV 2014, 1086, Rz 13, jeweils zu § 148 BewG; BFH-Urteile vom 30.01.2019 - II R 9/16, BFHE 263, 267, BStBl II 2019, 599, Rz 19 ff. und vom 16.11.2022 - II R 39/20, BFHE 279, 201, BStBl II 2024, 246, Rz 22, jeweils zu § 166 BewG; BFH-Urteil vom 17.06.2020 - II R 43/17, BFHE 269, 364, BStBl II 2022, 13, Rz 21 zu § 97 BewG).

 

Besteht die Möglichkeit einer solchen verfassungskonformen Auslegung, sind die pauschalierenden und typisierenden Bewertungsvorschriften nicht verfassungswidrig. Vielmehr ist dem Einwand möglicher verfassungswidriger Überbewertungen durch Anwendung dieser Vorschriften grundsätzlich der Boden entzogen (BFH-Urteile vom 22.01.2009 - II R 9/07, BFH/NV 2009, 1096, unter II.2.b und vom 08.06.2005 - II R 8/03, BFH/NV 2005, 2170, unter II.2.).

b) Diese Rechtsprechungsgrundsätze sind bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen und zugleich ausreichenden summarischen Prüfung auf die Bewertung nach dem Siebenten Abschnitt des Bewertungsgesetzes, die eine abweichende Wertfeststellung aus Billigkeitsgründen nicht vorsieht (vgl. § 220 Satz 2 BewG), zu übertragen, sodass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass zur Vermeidung einer Übermaßbesteuerung im konkreten Einzelfall der Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts in verfassungskonformer Auslegung der §§ 218 ff. BewG im Hauptsacheverfahren gelingt.

 

aa) Die Antragstellerin hat konkrete Umstände des Einzelfalls vorgetragen, die den erfolgreichen Nachweis eines niedrigeren gemeinen Werts für die gesamte wirtschaftliche Einheit mit der erforderlichen Abweichung zu dem im typisierten Verfahren festgestellten Grundsteuerwert im Hauptsacheverfahren möglich erscheinen lassen (vgl. auch BFH-Beschluss vom 23.10.2002 - II B 153/01, BFHE 200, 393, BStBl II 2003, 118, unter II.3.).

 

bb) Nach ihren Ausführungen könnte aufgrund des durch das Baujahr 1880 bedingten erheblichen Alters des Gebäudes und dessen schlechten Instandhaltungszustands infolge der nach dem Vorbringen der Antragstellerin seit der Erbauung unterbliebenen jeglichen Renovierungen im Rahmen der Ermittlung des Verkehrswerts der gesamten wirtschaftlichen Einheit dem Gebäude kein erheblicher Mehrwert beizumessen und die wirtschaftliche Einheit lediglich mit dem Bodenwert gegebenenfalls abzüglich etwaiger Freilegungskosten zu bewerten sein (sogenanntes Liquidationsobjekt). Die Ausführungen begründen auch Zweifel daran, dass sich mit einem Gebäude, das sich in dem von der Antragstellerin geschilderten Zustand befindet, die gesetzlich typisierten Mieterträge erzielen lassen. Es kann deshalb nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass der vom FA in Ansatz gebrachte gesetzlich typisierte Reinertrag in Höhe von 3.635,28 € beziehungsweise der kapitalisierte Reinertrag in Höhe von 64.998,81 € den tatsächlich erzielbaren Reinerträgen entspricht.

 

cc) Vor diesem Hintergrund erscheint es bei summarischer Prüfung im Streitfall zumindest möglich, dass der im angefochtenen Grundsteuerwertbescheid nach dem typisierten Bewertungsverfahren festgestellte Wert erheblich von dem gemeinen Wert der wirtschaftlichen Einheit abweicht und ein entsprechender Nachweis dieser Abweichung --beispielsweise durch ein Sachverständigengutachten-- geführt werden kann.

 

3. Da nach den oben dargestellten Grundsätzen bereits ernstliche Zweifel an der einfach-rechtlichen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Feststellungsbescheids im konkreten Einzelfall bestehen, war nicht mehr zu prüfen, ob die AdV auch wegen der vom FG geäußerten weiteren verfassungsrechtlichen Zweifel an der Gültigkeit der dem Bescheid zugrunde liegenden Bewertungsvorschriften zu gewähren ist.

 

Das gilt insbesondere, soweit das FG ein strukturelles Vollzugsdefizit mit der Begründung bejaht hat, es sei nicht gewährleistet, dass die Gutachterausschüsse bei der Ermittlung der Bodenrichtwerte sämtliche wertbeeinflussenden Grundstücksmerkmale berücksichtigen würden. Denn da die Antragstellerin die Möglichkeit hat, den Nachweis eines geringeren gemeinen Werts der gesamten wirtschaftlichen Einheit zu führen, ist die Frage, ob im Bereich der Bodenrichtwertermittlung in tatsächlicher Hinsicht ein Vollzugsdefizit besteht, für das vorliegende Verfahren nicht weiter entscheidungserheblich.

 

Ebenfalls offenbleiben kann, ob verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer gleichheitsgerechten Bewertung bestehen, weil nach der Ansicht des FG im typisierten Ertragswertverfahren der §§ 252 ff. BewG nur eine unzureichende Differenzierung nach der Lage der Gebäude und der Größe des Grundstücks erfolgt, denn die Antragstellerin rügt vorliegend keine lage- oder größenbedingt unzutreffende Wertfeststellung, sondern macht vielmehr geltend, dass ihrem Gebäude aufgrund des tatsächlichen Instandhaltungszustands kein erheblicher Mehrwert beizumessen sei. Ob die Nichtberücksichtigung lagebedingter Mietpreisunterschiede zu einer etwaigen Gleichheitswidrigkeit führt, ist daher auf der Grundlage des Vorbringens der Antragstellerin, auf dessen Prüfung der Senat im Aussetzungsverfahren grundsätzlich beschränkt ist, nicht entscheidungserheblich. Es bedarf deshalb auch keiner Entscheidung des Senats zu der Frage, ob ein besonderes berechtigtes Interesse der Antragstellerin an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes einzuräumen ist (vgl. hierzu BFH-Beschlüsse vom 18.01.2023 - II B 53/22 (AdV), BFH/NV 2023, 382, Rz 9; vom 20.09.2022 - II B 3/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1328, Rz 9 und vom 19.02.2018 - II B 75/16, BFH/NV 2018, 706, Rz 33, m.w.N.).

 

 

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.