Sicherheitsabstand: Keine wechselseitige Haftung bei Motorradfahren im Pulk
OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 18.08.2015 - 22 U 39/14 -
Kurze Inhaltsangabe:
Das OLG Frankfurt musste sich mit dem (nicht ?) alltägliche Sachverhalt auseinandersetzen, bei dem es zu einem Auffahrunfall zwischen Motorradfahrern kam, die im Pulk fuhren. Dabei soll es keine
feste Reihenfolge gegeben haben und auch der Sicherheitsabstand soll (einvernehmlich) nicht eingehalten worden sein.
Nach Auffassung des OLG sind damit alle Beteiligten ein besonderes Risiko eingegangen und jedem Mitglied hätte das gleiche passieren können wie dem Kläger: Der vorderste Motorradfahrer
kollidierte in einer Kurve mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Der Kläger fuhr dahinter und stürzte; es lässt sich nicht ausschließen, dass der Beklagte zu 1. Mit seinem Motorrad von hinten
gegen das Motorrad des Klägers fuhr und dieser deswegen zu Fall kam. Das Landgericht hat diesen Vorgang allerdings als nicht erwiesen angesehen und deshalb die Klage abgewiesen. Die Berufung
wurde vom OLG, wenn auch aus anderen Gründen, zurückgewiesen.
Das OLG vergleicht den Vorgang mit sportlichen Wettbewerben. Bei diesen hätte der BGH die Inanspruchnahme eines Schädigers ausgeschlossen, wenn typischerweise auch bei Einhaltung der Regeln oder
geringfügigen Abweichungen von den Regeln die Gefahr gegenseitiger Schadensverursachung bestünde (z.B. BGH vom 01.04.2003 - VI ZR 321/03 -). Daraus sei zu entnehmen, dass nach § 242 BGB der
Geschädigte einen Schädiger dann nicht in Anspruch nehmen soll/darf, wenn er bei einer getauschten Position in der gleichen Lage wäre (so auch BGH vom 05.11.1974 - VI ZR 100/73 -).
Wird die Gefahr, die mit der gemeinsamen Betätigung verbunden ist, wie hier von den beteiligten bewusst auf sich genommen und kann kein zusätzlich kein weiterer Vorwurf gemacht werden, so
bestünde keine Veranlassung jemanden mit einem Haftungsrisiko zu belasten. Vorliegend sei den Teilnehmern die Gefahr ersichtlich gewesen, da sie bewusst auf Sicherheitsabstände verzichtet hätten,
was aber gleichzeitig die bewusste Inkaufnahme eines damit verbundenen Sturzrisikos bedeute.
Vor diesem Hintergrund sei von einer stillschweigenden Vereinbarung auszugehen, nach der durch die Nichteinhaltung des an sich gebotenen Sicherheitsabstandes keine Ersatzansprüche geltend gemacht
werden können.
Aus den Gründen:
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 16.01.2014 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Gegenstandswert für die Berufungsinstanz wird auf 9.780,41 € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am ....04.2011 auf der Landstraße... in der Gemarkung O1 ereignete. An
diesem Tag befuhr der Kläger mit seinem Kraftrad Z gemeinsam mit seinem Bruder, seinem Schwager sowie dem Beklagten zu 1) die bezeichnete Landstraße von O1 kommend in Richtung O2.
Das Motorrad des Beklagten zu 1) ist bei der Beklagten zu 2) versichert. Es handelt sich um ein Kraftrad der Marke X. Der Zeuge A, der mit seinem Kraftrad als erster in der
Motorradgruppe fuhr, kollidierte in einer Kurve mit dem ihm entgegenkommenden Fahrzeug der Zeugin B. Der Kläger fuhr dahinter und stürzte mit seinem Motorrad, wobei die
Einzelheiten und die Verursachung streitig sind. Als dritter fuhr der Beklagte zu 1) und kam ebenfalls zu Fall. Als letzter fuhr der Zeuge C, der zwischen den rutschenden und
liegenden Motorrädern hindurchfahren konnte. Der Kläger erlitt durch den Sturz erhebliche Verletzungen, sein Kraftrad wurde vollständig beschädigt.
Der Kläger hat behauptet, er habe aufgrund der Kollision des vor ihm fahrenden Zeugen sein Motorrad abbremsen müssen. Er habe sein Motorrad noch rechtzeitig zum Stehen bringen
können, als der Beklagte zu 1) mit seinem Motorrad unvermittelt auf das Heck des Motorrads aufgeprallt und ihn mit sich geschleppt habe. Der Beklagte zu 1) habe den erforderlichen
Sicherheitsabstand nicht eingehalten.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands erster Instanz und der dort gestellten Anträge wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen. Das Landgericht
hat nach ausführlicher Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung und Einholung eines Sachverständigengutachtens die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass nach dem
Sachverständigengutachten und seiner Anhörung nicht ausreichend sicher feststellbar sei, dass der Beklagte mit seinem Motorrad gegen das Heck des Motorrads des Klägers gestoßen
sei und dieses zu Fall gebracht habe. Es sei nicht auszuschließen, dass die Beschädigungen am Heck des klägerischen Fahrzeugs und an der Front des Beklagtenfahrzeugs durch
Kollisionen während der Rutschphase, insbesondere mit den Fahrbahnbegrenzungen, eingetreten seien.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung, mit der er sein erstinstanzliches Vorbringen weiterverfolgt. Er rügt
insbesondere die Beweiswürdigung des Landgerichts. Aus den Angaben des Sachverständigen ergebe sich eindeutig, dass keine Anhaltspunkte ersichtlich seien, dass die Beschädigungen
der Fahrzeuge im relevanten Bereich durch andere Kollisionen hätten entstanden sein können.
Die Beklagte zu 2), die als Streithelferin dem Beklagten zu 1) beigetreten ist, verteidigt das angefochtene Urteil.
II.
Die Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das Landgericht hat jedenfalls im Ergebnis zutreffend die Klage abgewiesen.
Der Senat ist grundsätzlich gemäß § 529 ZPO an die erstinstanzlichen Feststellungen gebunden, soweit keine Anhaltspunkte erkennbar sind, die ernstliche Zweifel aufweisen. Das
Landgericht hat trotz relativ eindeutiger Aussagen des Sachverständigen nicht die notwendige Überzeugung davon gewinnen können, dass die kompatiblen Schäden am Heck des Fahrzeugs
des Klägers und an der Front des Fahrzeugs des Beklagten zu 1) auf einen Anstoß des nachfolgenden Fahrzeugs gegen das fahrende Fahrzeug des Klägers zurückzuführen sind. Angesichts
der Unklarheit des konkreten Unfallgeschehens und der Schwierigkeiten bei der Sachverständigenaufklärung mag dies möglich sein, um die Erfordernisse des § 286 ZPO, nämlich
einer mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bestehenden Überzeugung, die vernünftige Zweifel ausschließt, zu erfüllen. Es verbleibt allerdings die von der Berufung
aufgeworfene Frage, ob eine lediglich theoretische Möglichkeit einer zufälligen Beschädigung von Heck und Front beider Fahrzeuge durch Kollisionen mit Fahrbahnbegrenzungen etc.
die vom Sachverständigen eindeutig festgestellte Kompatibilität der Schadensbilder ausreichend in Frage stellen kann.
Abschließend muss dies allerdings nicht entschieden werden, da sich das Urteil aus anderen Gründen als richtig erweist.
Das Landgericht hat zunächst zutreffend außer Acht gelassen, dass im vorliegenden Fall ein weiterer Verursachungsbeitrag darin liegt, dass das Gesamtunfallereignis durch das
Verhalten des Zeugen A, nämlich die Unfallverursachung mit dem Fahrzeug der Zeugin B, entstanden ist. Zwar ist bei mehreren Unfallbeteiligten zu prüfen, wie sich die
Haftungsanteile in einer Gesamtschau darstellen, um Ungerechtigkeiten bei der Frage der Gesamtschuldbefreiung auszugleichen (vgl. dazu nur BGH MDR 59, 916 grundlegend; OLG Celle,
19.12.07 – 14 U 78/07 -, Kirchhoff, MDR 12, 1389). Dies gilt allerdings lediglich, wenn in einem Verfahren mehrere Beteiligte in Anspruch genommen werden oder wenn sich
die Frage stellt, inwieweit ein Gesamtschuldner von einem weiteren Regress verlangen kann (vgl. dazu auch Steffen DAR 1990, 41; Kirchhoff MDR 12, 1389).
Eine vom Nachweis der Verursachung unabhängige Haftung des Beklagten zu 1) folgt auch nicht aus § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB. Mehrere Kraftfahrer, die durch verschiedene
selbständige Verkehrsverstöße einen Unfall herbeigeführt haben, können gemäß § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB haften, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass ihr Tatbeitrag kausal
für den Schaden geworden ist. Beteiligung in diesem Sinne setzt weder eine innere Beziehung zwischen den Beteiligten noch die Gleichzeitigkeit ihrer Gefährdungshandlungen voraus
(BGH NJW 06, 2399). § 830 BGB ist allerdings nicht anwendbar, wenn der Geschädigte den Schaden selbst mitverursacht haben kann (BGH NJW 73, 993; OLG Karlsruhe, VersR 81,
739).
Der Senat geht angesichts der Gesamtumstände und des Ergebnisses der Beweisaufnahme allerdings davon aus, dass vorliegend die Haftung des Beklagten zu 1) bereits dem Grunde nach
ausscheidet. Auch bei Unterstellung, dass der Sturz des Klägers maßgeblich durch die Kollision mit dem Fahrzeug des Beklagten zu 1) entstanden ist, was grundsätzlich zu einer
Haftung gemäß § 7 StVG führen würde, wäre die Haftung des Beklagten zu 1) wegen eines stillschweigend vereinbarten Haftungsverzichts für Gefährdungshaftung und leichte
Fahrlässigkeit ausgeschlossen.
Ausweislich der Beweisaufnahme ergibt sich, dass die vier Motorradfahrer in einer Gruppe gefahren sind. Dies hat die Zeugin B bekundet, die die Motorradfahrer als Gruppe
wahrgenommen hat, außerdem hat der Zeuge C angegeben, dass alle Motorräder dicht beieinander gewesen seien. Er sei vielleicht eine Autolänge hinter dem Beklagten zu 1)
gefahren. Der erste in der Gruppe sei ein bisschen weiter vorgefahren, dann seien die drei anderen praktisch zusammen gekommen. Es habe in der Gruppe keine feste Reihenfolge
gegeben. Aus diesen Angaben und den Feststellungen des Sachverständigen ist für den Senat eindeutig, dass die Motorradgruppe einvernehmlich den erforderlichen Sicherheitsabstand
nicht eingehalten hat. Bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h hätte der Anhalteweg bei bester Bremssituation 29 Meter betragen. Der von dem Zeugen C geschilderte Abstand zu seinem
Vordermann betrug allenfalls 5 Meter. Auch der Kläger hielt keinen ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem vorausfahrenden Motorradfahrer ein, wie sich daraus ergibt, dass der
Sachverständige mit Sicherheit feststellen konnte, dass der Kläger nicht in der Lage gewesen wäre, sein Motorrad hinter dem Unfall vollständig abzubremsen. Dass auch der Beklagte
zu 1) keinen ausreichenden Abstand eingehalten hat, folgt neben der Aussage des Zeugen C auch daraus, dass irgendeine Reaktion des Beklagten zu 1) nicht erkennbar ist, er also auf
das abbremsende Fahrzeug des Klägers mit einer höheren Geschwindigkeit aufgefahren ist, die allerdings nicht erheblich über der Geschwindigkeit des Klägers lag, wie der
Sachverständige festgestellt hat.
Für den Senat stellt sich damit das durchaus im Straßenverkehr vertraute Bild dar, dass Motorradfahrer in einer Gruppe fahren, bei der alle den erforderlichen Sicherheitsabstand
nicht einhalten und die Reihenfolge je nach Verkehrssituation und anderen Umständen wechseln kann. Die aus der erstinstanzlichen Beweisaufnahme dafür entnehmbaren Indizien sind so
eindeutig, dass eine erneute Beweisaufnahme nicht erforderlich ist.
Angesichts dieser Situation geht der Senat davon aus, dass alle Beteiligten in der Gruppe einvernehmlich ein besonderes Risiko eingegangen sind, um das entsprechende
Gruppenfahrgefühl zu erreichen. Jedem der Gruppe hätte die gleiche Situation passieren können wie dem Kläger. Dass der Zeuge C hindurchfahren konnte, mag daran liegen, dass er
eine geringfügig längere Reaktionszeit hatte als die vor ihm fahrenden Motorradfahrer. Sämtliche Teilnehmer der Gruppe nahmen mithin billigend in Kauf, dass entweder sie selbst
oder der hinter ihnen fahrende Fahrer bei einer Unfallsituation oder sonstigen Störungen nicht ausreichend bremsen konnte und es mithin zu Schädigungen der anderen
Gruppenteilnehmer kommen konnte.
Der Bundesgerichtshof hat bei sportlichen Wettbewerben mit nicht unerheblichen Gefahrenpotenzial, bei denen typischerweise auch bei Einhaltung der Regel oder geringfügigen
Regelverletzung die Gefahr gegenseitiger Schadenzufügung besteht, die Inanspruchnahme des Schädigers für solche Schäden eines Mitbewerbers ausgeschlossen, die er ohne gewichtige
Regelverletzung im Sinne grober Fahrlässigkeit verursacht (BGH NJW 03, 2018, BGH NJW 08, 1591; DAR 09, 326; OLG Stuttgart, OLGR 09, 1; OLG Karlsruhe, 27.01.14,
1 U 158/12; OLG Hamm, 05.11.13, 9 U 124/13; andere Ansicht OLG Koblenz, 14.03.11, 12 U 1529/09). Aus diesen Grundsätzen ist zu folgern, dass das
Verbot des venire contra factum proprium (§ 242 BGB) es nicht zulässt, dass der Geschädigte einen Schädiger in Anspruch nimmt, wenn er bei getauschten Positionen ebenso gut
in die Lage hätte kommen können, in der sich nun der Beklagte befindet (vgl. nur BGHZ 63, 140; OLG Brandenburg, 28.06.07, 12 U 209/06 zu im Pulk fahrenden
Motorradfahrern). Wird die allgemeine Gefahr, die mit der gemeinsamen Betätigung verbunden ist, von den Beteiligen bewusst auf sich genommen und kann zusätzlich dem einen kein
größerer Vorwurf gemacht werden als dem anderen, so besteht keine Veranlassung, den einen mit höheren Haftungsrisiken zu belasten als den anderen. Im Streitfall war das
verabredungsgemäße Fahren im Pulk deshalb besonders gefahrenträchtig, weil damit notwendig und für die Beteiligten erkennbar der weitergehende Verzicht auf die von der StVO
vorgeschriebenen Sicherheitsabstände zum Vorder- und Hintermann einherging. Dies bedeutet aber zugleich die Inkaufnahme der damit unweigerlich verbundenen erhöhten Sturzrisiken,
die auch bei erhöhter Aufmerksamkeit der Fahrer nie auszuschließen sind, weil jederzeit Verkehrssituationen auftreten können, auf die mit plötzlichen Richtungswechseln oder
abrupten Bremsmanövern reagiert werden muss.
Dass vorliegend eine grobe Fahrlässigkeit des Beklagten zu 1) vorlag, ist nicht erkennbar. Die fehlende ausreichende Bremsung durch den Beklagten zu 1) ist lediglich darauf
zurückzuführen, dass dieser aufgrund der Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Besondere Umstände sind hier weder erkennbar noch
vorgetragen.
Liegt mithin eine stillschweigende Vereinbarung der Parteien dahingehend vor, dass eine gemeinsame Regelverletzung, nämlich die Nichteinhaltung des Sicherheitsabstandes erfolgt,
ist damit zwingend auch ein Verzicht auf Schadensersatzansprüche aus einer solchen Regelverletzung, ebenso wie Ansprüche aus Gefährdungshaftung gemäß § 7 StVG ausgeschlossen.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97, 708 Nr. 10, 713 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO.
Anhaltspunkte für die Zulassung der Revision bestehen nicht, da die Entscheidung aufgrund der Beweiswürdigung eines individuellen Sachverhalts erfolgt und die Fragen des
stillschweigenden Haftungsausschlusses durch den Bundesgerichtshof und die obergerichtliche Rechtsprechung ausreichend geklärt sind. Davon weicht der Senat nicht ab (§ 543
ZPO).