Haftungsabwägung bei Überholen einer Kolonne, § 17 Abs. 2
StVO
OLG Schleswig, Beschluss nach §
522 ZPO vom 30.01.2020 - 7 U 210/19 -
Kurze Inhaltsangabe:
Gegenstand der Klage war ein Verkehrsunfall anlässlich eines Überholvorgangs des Klägers. Dieser fuhr ebenso wie der Erstbeklagte in einer Fahrzeugkolonne, die sich hinter einem Traktor gebildet
hatte. Der Kläger befand sich etwa 10 bis 12 Fahrzeuge hinter dem Traktor. Nachdem 3 bis 6 Fahrzeuge, die sich direkt hinter dem Traktor befanden, zunächst diesen überholten, scherte der Kläger
mit eingeschalteten Warnblinklicht aus der Kolonne aus und wollte die vor ihm fahrenden Fahrzeuge nebst dem Traktor links überholen. Der Erstbeklagte, der sich zwischenzeitlich direkt hinter dem
Traktor befand, scherte nun ebenfalls nach links zum Überholen des Traktors aus und kollidierte dabei mit dem klägerischen Fahrzeug. Das Landgericht ging von einer Haftungsquote von 30% zu
Lastend es Klägers zu 70% zu Lasten der Beklagten aus. Die vom Kläger eingelegte Berufung wurde zurückgewiesen.
Das OLG wies darauf hin, dass bei der Bildung der Haftungsquote nach § 17 Abs. 2 StVG auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen sei, mithin insbesondere darauf, inwieweit der Schaden
vorwiegend von dem einen oder anderen Beteiligten verursacht worden sei. Neben der Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge dürften dabei nur unstreitige, zugestandene oder aber bewiesene
Umstände berücksichtigt werden. Jeder beteiligte hätte dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen Beteiligten zum Verschulden reichen würden und aus denen er meint, für die Abwägung günstige
Rechtsfolgen herleiten zu können.
Dabei sei zu Lasten der Beklagten der Verstoß des Erstbeklagten gegen § 5 Abs. 4 S. 1 StVO (überholen darf nur, wenn eine Gefährdung nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist) zu berücksichtigen.
Allerdings sei bei dem Kläger eine gesteigerte Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Er habe mit 67km/h eine Fahrzeugkolonne links überholt, die sich auf der Bundesstraße hinter einem Traktor
aufgestaut habe. Er sei dann mit Warnblinklicht ausgeschert um zu überholen. Der weitere Verlauf der Bundesstraße nach der Unfallstelle sei wegen einer Kuppe nicht einsehbar gewesen, weshalb sich
der Kläger bei möglichen Gegenverkehr in die Fahrzeugschlange hätte „reinquetschen“ müssen. Ferner hätte er, wie geschehen, damit rechnen müssen, dass eines der ersten Fahrzeuge hinter dem
Traktor aus der Kolonne ausschert um ebenfalls zu überholen.
§ 5 Abs. 4 und 4a StVO verlange von dem Überholer auf die Fahrweise des Eingeholten zu achten und er dürfe diesen nicht gefährden. Er müsse nach der Örtlichkeit sicher sein, dass kein
Vorausfahrender links abbiegen will. Wer eine stockende Kolonne überhole, ohne mit Gewissheit vorn eine Einscherlücke erkenne, zeige keine äußerste Sorgfalt nach § 5 Abs. 4 S. 1 StVO. Der Kläger
habe sich nicht alleine auf das von ihm eingeschaltete Warnblinklicht verlassen dürfen; § 16 Abs. 2 StVO sehe entsprechende ausdrückliche Benutzungsvorschriften vor, damit keine übertriebene
Benutzung erfolge, die hier das Warnblinklicht nicht vorgesehen hätten.
Aus den Gründen:
Tenor
1. Die Berufung des Klägers vom 14.10.2019 gegen das am 12.09.2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 12. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Lübeck ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 6.000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Kläger beansprucht von der Berufungsbeklagten Schadenersatz aufgrund eines Verkehrsunfalles, der sich am 16.08.2017 gegen 17:17 Uhr auf der B 202 zwischen WS und O. ereignet hat. Der Kläger
und der am 17.03.2019 verstorbene Erstbeklagte befuhren mit ihren Fahrzeugen (Kläger: Audi A5; Erstbeklagter: Kleintransporter) die B 202 in Fahrtrichtung O. in einer Fahrzeugkolonne, die sich
hinter einem Traktor gebildet hatte. Das Fahrzeug des Klägers befand sich etwa 10 - 12 Fahrzeuge hinter dem Traktor. Zunächst überholten ca. 3 - 6 Fahrzeuge der Reihe nach, die sich unmittelbar
hinter dem Traktor befanden. Sodann scherte der Kläger mit eingeschaltetem Warnblinklicht aus der Kolonne aus und beabsichtigte, die noch in der Kolonne vor ihm fahrenden weiteren Fahrzeuge sowie
den Traktor links zu überholen. Als sich der Erstbeklagte unmittelbar hinter dem Traktor befand, scherte auch er zum Überholen auf die Gegenfahrbahn aus und kollidierte dabei mit dem klägerischen
Fahrzeug.
Die Vollkaskoversicherung des Klägers, die G.-Versicherungs AG, erstattete ihm am 17.12.2018 Reparaturkosten in Höhe von 6.720,77 €, weitere 300,00 € fielen dem Kläger als Selbstbeteiligung zur
Last. Für die Inanspruchnahme der Versicherung entstand dem Kläger ein Prämiennachteil für das Jahr 2019 in Höhe von 200,53 €.
Der Kläger beansprucht 100 % des ihm entstandenen Schadens (Ersatz von [Not-] Reparaturkosten nebst Minderwert, Schadenermittlungskosten, Fahrtkosten mit Kilometerkosten von je 1,02 €/km,
Nutzungsausfall, Verdienstausfall für den mit dem Unfall verbundenen Zeitaufwand sowie Kostenpauschale). Nachdem der Kläger zunächst die Zahlung von 10.152,44 € nebst Zinsen und Freihaltung von
vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 958,19 € beansprucht hatte, hat er mit Schriftsatz vom 01.08.2019 (Bl. 67 GA) die Klage um weitere Schadenersatzpositionen erweitert und hinsichtlich
der Zinsen zurückgenommen. Der Kläger hat beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
1)
a. an die G.-Versicherungs AG einen Betrag in Höhe von 6.720,77 € zu zahlen und
b. an ihn einen Betrag in Höhe von 6.038,92 € zu zahlen sowie
2) ihn von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 958,19 € freizuhalten und
3) festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm den durch die Einschaltung seiner Vollkaskoversicherung entstandenen Prämienverlust auszugleichen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Landgericht hat den Kläger persönlich angehört sowie Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen H. und Z..
Mit dem angefochtenen Urteil vom 12.09.2019 hat das Landgericht die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die G.-Versicherungs AG 4.704,54 € und an den Kläger 2.434,25 € zu zahlen sowie
den Kläger von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 612,80 € freizustellen und den aus der Inanspruchnahme der Vollkaskoversicherung entstandenen Prämienverlust mit einer Quote von 70
% auszugleichen. Im Übrigen hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hält das Landgericht eine Haftungsquote von 30 % : 70 % zu Lasten der Beklagten für
angemessen.
Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er hält eine Haftung der Beklagten zu 100 % für gerechtfertigt, weil die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges bei diesem Sachverhalt vollständig
zurücktreten müsse. Auch mit der Bewertung der Höhe einzelner Schadensersatzpositionen ist der Kläger nicht einverstanden.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und
1. die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Zahlung weiterer 2.016,23 € an die G.-Versicherungs AG und weiterer 3.604,67 € an ihn zu verurteilen, sowie
2. die Beklagten gesamtschuldnerisch zur Freihaltung des Klägers von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 958,19 € zu verurteilen und
3. festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, ihm den durch die Einschaltung seiner Vollkaskoversicherung aus dem Schadensfall vom 01.08.2017 auf der B 202
entstandenen Prämienverlust in der Vollkaskoversicherung auszugleichen.
Im Wege der Klagerweiterung beantragt der Kläger ferner, die Beklagten zur Zahlung von Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz
a. auf einen Betrag in Höhe von 10.152,44 € seit dem 07.12.2017 zu verurteilen, wobei die Zinsen auf einen Betrag in Höhe von 6.720,77 € ab dem 18.12.2018 an die G.-Versicherungs AG und
hinsichtlich des verbleibenden Betrages an ihn zu zahlen sind und
b. auf einen weiteren Betrag in Höhe von 2.607,25 € seit Rechtshängigkeit an ihn zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der Einzelheiten des Parteivortrages im zweiten Rechtszug wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Die Berufung des Klägers hat im Sinne von § 522 Abs. 2 ZPO offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung wird Bezug
genommen. Die Ausführungen des Klägers aus der Berufungsbegründung vom 13.11.2019 sowie aus dem Schriftsatz vom 27.01.2020 rechtfertigen keine andere Entscheidung. Das Landgericht hat dem Kläger
gem. §§ 7, 17, 18 StVG, 115 VVG, 5 Abs. 4 StVO dem Grunde nach lediglich eine Haftungsquote von 70 % zuerkannt. Die begehrte volle Haftung der Beklagten ist aufgrund des
nicht unerheblichen eigenen Verursachungsbeitrages des Klägers nicht gerechtfertigt. Auch die Höhe des zuerkannten Sachschadens ist nach §§ 249 ff. BGB nicht zu beanstanden. Der
Senat hatte mit einstimmigem Beschluss vom 30.12.2019 bereits auf folgendes hingewiesen:
1. Zu Recht hat das Landgericht im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge im Sinne von § 17 I und II StVG auf eine Haftungsquote von lediglich 70 %
erkannt. Nach § 17 Abs. 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil
verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden
Betriebsgefahr nur unstreitige, zugestandene oder aber bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden reichen und aus
denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. Rn. 4
ff. StVG). Unstreitig liegt auf Seiten der Beklagten ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4 S. 1 StVO vor.
Aber auch auf Seiten des Klägers ist von einer gesteigerten Betriebsgefahr auszugehen. Er hat nach eigenen Angaben mit einer Geschwindigkeit von 67 km/h (von seinem Tacho will er sogar 77 km/h
abgelesen haben) eine Fahrzeugkolonne links überholt, die sich hinter einem Traktor auf der Bundesstraße B 202 zwischen W. und F. aufgestaut hatte. Nach Angaben des Zeugen Michael H. befand sich
der Pkw des Klägers etwa 10 - 12 Fahrzeuge hinter dem Traktor. Obwohl zunächst 3 - 6 Fahrzeuge, die sich unmittelbar hinter dem Traktor befanden, der Reihe nach den Traktor überholten, scherte
der Kläger mit eingeschaltetem Warnblinklicht aus der Kolonne aus und beabsichtigte, die noch in der Kolonne vor ihm fahrenden Fahrzeuge und den Traktor links zu überholen. Nach dem
Ermittlungsbericht der Polizeistation O. vom 16.08.2017 (Vorgangsnummer: xxxx/2017; PHM D. P.) war die B 202 im weiteren Verlauf an der Unfallstelle wegen einer Kuppe nicht weiter einsehbar. Wenn
ein Fahrzeug im Gegenverkehr hinter der Kuppe aufgetaucht wäre, hätte sich der Kläger in die Fahrzeugschlange „reinquetschen müssen“. Außerdem hätte der Kläger - wie tatsächlich auch geschehen -
damit rechnen müssen, dass eines der ersten Fahrzeuge aus der Kolonne unmittelbar hinter dem Traktor ausscheren werde.
Gemäß § 5 Abs. 4 und 4 a StVO muss der Überholende auf die Fahrweise des Eingeholten achten und darf ihn nicht gefährden. Wer eine Kolonne überholen will, muss nach der
Örtlichkeit sicher sein, dass kein Vorausfahrender links abbiegen will (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, a.a.O., StVO § 5 Rn. 40 m.w.N.). Wer eine stockende Kolonne
überholt, ohne dass er vorn mit Gewissheit eine Einscherlücke erkannt hat, zeigt keine äußerste Sorgfalt im Sinne von § 5 Abs. 4 S. 1 StVO (König in
Hentschel/König/Dauer, a.a.O. § 5 StVO, Rn. 26 m.H.a. auf KG NZV 1998, 377). Der Kläger durfte sich hier nicht allein auf das von ihm beim Überholvorgang eingeschaltete Warnblinklicht
verlassen. Der Zeuge H. hat im Termin vom 12.08.2019 bekundet, dass er sich sicher sei, dass der Kläger mit eingeschaltetem Warnblinker an der Schlange vorbeigefahren sei (Bl. 88 GA). Für den
Fall des Überholens sind grundsätzlich nur Schall- und Leuchtzeichen nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 StVO gestattet. Die übermäßige Verwendung von Warnblinklicht ist zu vermeiden.
Weil Fahrzeugführer, deren Fahrzeuge mit Warnblinkanlage ausgerüstet sind, zu deren übertriebenen Benutzung neigen, sind nach § 16 Abs. 2 StVO entsprechende ausdrückliche
Benutzungsvorschriften erlassen worden (König in Hentschel/König/Dauer, a.a.O., StVO § 16 Rn. 3). Nach alledem hat das Landgericht den Mitverursachungsanteil des Klägers zu Recht mit
mindestens 30 % bewertet.
2.
Die Höhe des zuerkannten Sachschadens ist ebenfalls nicht zu beanstanden.
Zu Recht hat das Landgericht für den Austausch des neuen Vorderreifens einen Abzug „neu für alt“ von 20 % angesetzt. Die Vorderreifen wiesen ein Profil von lediglich 4 mm auf, neue Reifen
haben hingegen eine Profiltiefe von 8 mm - 9 mm.
Das Landgericht hat auch zu Recht lediglich Fahrtkosten für Werkstattfahrten (H. – K.) für 2 Tage zuerkannt. Es ist nicht schlüssig dargelegt, weshalb der Kläger viermal zur Werkstatt fahren
musste. Schließlich lassen sich entsprechende Dinge auch schriftlich oder aber telefonisch klären.
Die vom Kläger eingereichten Unterlagen seines Steuerberaters (Anlagen K 6 a und K 6 b) beweisen nicht, dass ihm tatsächlich Kilometerkosten von 1,02 €/km entstanden sind. Zu Recht hat das
Landgericht deshalb hier den allgemein üblichen Kilometersatz von 0,30 €/km zugrunde gelegt.
Der Zeit- und Verdienstausfall für die Regulierung des Verkehrsunfalls wird nicht ersetzt. Dies ist Ausdruck des allgemeinen Lebensrisikos.
Soweit der Kläger mit Schriftsatz vom 27.01.2020 weiterhin der Ansicht ist, dass auf seiner Seite keine erhöhte Betriebsgefahr bestand und die Abzüge bei der Schadenshöhe nicht gerechtfertigt
seien, wird auf die vorstehende Begründung Bezug genommen. Soweit der Kläger - erstmals im zweiten Rechtszug - im Zuge der Klagerweiterung gem. §§ 286, 288 BGB die Zuerkennung
von Verzugszinsen beansprucht, ist dies unbegründet. Ausweislich des unstreitigen Tatbestandes des angefochtenen Urteils (vgl. S. 3 des Urteils vom 12.09.2019) hat der Kläger bereits im
ersten Rechtszug hinsichtlich der ursprünglich beantragten Zinsen die Klage nach § 269 Abs. 1 ZPO zurückgenommen. Abgesehen davon, dass der Zinsanspruch nicht substantiiert
dargelegt ist, fehlt es auch an den Voraussetzungen des § 533 ZPO.
Nach alledem ist die Berufung offensichtlich unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO.