Begegnungsverkehr auf schmaler Straße und Haftungsquotelung
OLG Hamm, Urteil vom 07.06.2016 –
9 U 59/14 -
Kurze Inhaltsangabe:
Auf einer 5,8m breiten Straße begegneten sich die Traktoren (nebst angehängten Arbeitsgeräten) der Parteien. Das klägerische Gespann fuhr mit einer Geschwindigkeit von 35 – 40km/h, das
Gespann des Beklagten mit ca. 30km/h. Die angehängten Arbeitsgeräte hatten eine Breite von 2,85 bzw. 3,03m. Als die Fahrzeuge etwa auf gleicher Höhe waren, lenkte der Fahrer des
klägerischen Gespanns dieses nach rechts auf die dortige Grasnarbe und geriet dabei in eine überwachsene Bodenmulde, wodurch das Gespann umkippte. Das Landgericht hat mangels Nachweises eines
Verschuldens eine beiderseitige Betriebsgefahr angenommen und den Schaden zu je ½ gequotelt. Die dagegen gerichtete Berufung des Belagten wurde vom OLG zurückgewiesen.
Das OLG wies darauf hin, dass es für eine Haftung nicht erforderlich wäre, dass sich die Fahrzeuge berührt hätten. Die Haftung wäre bereits dann gegeben, wenn der Unfall auch nur mittelbar durch
das andere Fahrzeug verursacht wurde. Dafür sei die bloße (zeitliche und örtliche) Anwesenheit noch nicht ausreichend. Es müsse eine Verkehrsbeeinflussung vorliegen, die zur Schadensentstehung
beigetragen habe. Ausreichend sei insoweit, wenn die Fahrweise den anderen Verkehrsteilnehmer zu einer Ausweichbewegung veranlasse.
Vorliegend, so das OLG, erfolgte die Ausweichbewegung bei Annäherung beider Traktoren und galt ersichtlich mit Blickt auf den Traktor des Beklagten. Damit ist eine Abwägung nach § 17 Abs. 2 StVG
vorzunehmen.
Zu berücksichtigen wäre zum einen die von beiden Verkehrsteilnehmern ausgehende Betriebsgefahr. Allerdings wäre zusätzlich auch ein unfallursächliches verschulden gem. § 1 Abs. 2 StVO in die
Abwägung mit einzustellen. Denn beide sind den an sie gestellten Anforderungen einer besonderen Sorgfaltspflicht auf schmaler Straße nicht nachgekommen. Eine Begegnung dürfe mit zügiger fahrt nur
stattfinden, wenn zwischen den sich begegnenden Fahrzeugen unter Berücksichtigung eines nötigen Abstandes zum jeweiligen rechten Fahrbahnrand ein Seitenabstand von mindestens 1m eingehalten
würde. Kann dieser Abstand nicht gewahrt werden, muss dieser Umstand durch Reduzierung der Geschwindigkeit ausgeglichen werden. Reicht auch das nicht, hätten beide Fahrzeuge anzuhalten und die
Fahrer müssten sich verständigen, welcher Fahrer am stehenden Fahrzeug vorbeifährt. Gegen diese Pflicht nach § 1 Abs. 2 StVO hätten beide Fahrzeugführer schuldhaft verstoßend, da der Abstand
zwischen beiden Gespannen nicht hätte 1m betragen können.
Aus den Gründen:
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 06.03.2014 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
Dieses und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 01.08.2012 auf der Werther Straße in Enger geltend. Die Straße ist 5,8 m breit. Im
Bereich der Unfallstelle begegneten sich der von dem Zeugen E gesteuerte Traktor des Klägers mit angehängtem Grubber und der von dem Beklagten zu 1) gelenkte und bei der Beklagten
zu 2) haftpflichtversicherte Traktor mit angehängtem Fasswagen zum Transport von Gülle. Die Geschwindigkeit des Gespanns des Zeugen E betrug ca. 35 - 40 km/, das des Beklagten zu
1) ca. 30 km/h. Die Abmessungen der angehängten Arbeitsgeräte in der Breite betrugen 2,85 m bzw. 3,03 m. Als die Fahrzeuge etwa auf gleicher Höhe waren, lenkte der Zeuge E sein
Gespann auf den rechtsseitig gelegenen Grünstreifen. Dabei geriet er mit den rechten Reifen des Traktors in eine mit Gras bewachsene Bodenmulde. Infolgedessen kippte das Gespann
auf die Seite. Nach der Anhörung des Beklagten zu 1) und der Vernehmung von Zeugen hat das Landgericht dem Kläger hälftigen Ersatz des diesem entstandenen, der Höhe nach nicht
mehr streitigen Schadens aus dem Verkehrsunfall zugesprochen. Dabei hat das Landgericht mangels Nachweises eines Verschuldens der Beteiligten bei der nach § 17 Abs. 2 StVG
vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge lediglich die von beiden Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr berücksichtigt. Gem. § 540 ZPO wird auf die
tatsächlichen Feststellungen des landgerichtlichen Urteils verwiesen, soweit sich aus dem Nachstehenden nichts anderes ergibt.
Mit ihrer Berufung verfolgen die Beklagten ihren erstinstanzlichen Antrag auf Klageabweisung weiter. Das Landgericht habe die Frage, ob den Zeugen E ein Verschulden an dem
Zustandekommen des Verkehrsunfalls treffe, nur unzureichend aufgeklärt. Selbst wenn der Zeuge E nur mit 35 km/h bis 40 km/h, und nicht, wie die Zeugin L ausgesagt habe, mit
mindestens 50 km/h auf den Grünstreifen gefahren sei, begründe dies den Vorwurf, unangepasst schnell unterwegs gewesen zu sein. Dass er bei einem solchen Fahrmanöver sein Gespann
nicht mehr würde beherrschen können, habe dem Zeugen E bewusst sein müssen. Den Zeugen E treffe zudem der Vorwurf, nicht äußerst rechts gefahren zu sein. Denn nach Auftauchen des
Beklagten zu 1) im Gegenverkehr hätte der Zeuge E notfalls unter Befahren des Grünstreifens nach rechts ausweichen und hierzu seine Geschwindigkeit reduzieren müssen. Der Beklagte
zu 1) sei langsam und äußerst rechts gefahren und habe den Zeugen E daher nicht zu dessen Fahrweise veranlasst.
Der Senat hat den Beklagten zu 1) gem. § 141 ZPO persönlich angehört und den Zeugen E vernommen. Der Sachverständige Prof. T2 hat im Senatstermin vom 07.06.2016 über den
Unfallhergang mündlich sein zuvor schriftlich erstelltes verkehrsanalytisches Gutachten erstattet. Wegen des wesentlichen Ergebnisses der Parteianhörung und der Beweisaufnahme
wird auf den Berichterstattervermerk vom 07.06.2016 Bezug genommen.
Dem Senat lagen die Akten 875 Js 1400/12 und 875 Js 1224/12 Staatsanwaltschaft Bielefeld vor.
II.
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Dem Kläger steht gegen die Beklagten ein sich aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB, § 115 Abs.1 S. 1 Nr. 1 VVG ergebender Anspruch auf Ersatz des diesem durch den
Verkehrsunfall vom 01.08.2012 entstandenen und der Höhe nach unstreitigen Schadens nach einer Haftungsquote von 50% zu.
1. Der Unfall hat sich gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StGB bei dem Betrieb des von dem Beklagten zu 1) geführten Traktors ereignet. Das Unfallereignis war, wie auszuführen ist, für
keinen der Beteiligten unabwendbar, und ist auch nicht durch höhere Gewalt nach § 7 Abs. 2 StGB verursacht worden.
2. Zutreffend geht das Landgericht davon aus, dass die Haftung des Beklagten zu 1) als Fahrzeugführer aus vermutetem Verschulden gemäß § 7 Abs. 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 StVG auch dann
eingreifen kann, wenn es nicht zu einer Berührung zwischen den am Unfallgeschehen beteiligten Kraftfahrzeugen gekommen ist. Eine Haftung kommt grundsätzlich nämlich auch dann in
Betracht, wenn der Unfall mittelbar durch das andere Kraftfahrzeug verursacht worden ist. Allerdings reicht die bloße Anwesenheit des Kraftfahrzeugs an der Unfallstelle dafür
nicht aus. Vielmehr muss das Kraftfahrzeug durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen haben. Dieses kann etwa der Fall
sein, wenn der Geschädigte durch den Betrieb eines Kraftfahrzeugs zu einer Reaktion wie z.B. zu einem Ausweichmanöver veranlasst wird und dadurch ein Schaden eintritt. In einem
solchen Fall kann der für eine Haftung erforderliche Zurechnungszusammenhang je nach Lage des Falles zu bejahen sein. Der Zurechnungszusammenhang entfällt in derartigen Fällen
nicht bereits deshalb, weil es zu dem Unfall infolge einer voreiligen - also objektiv nicht erforderlichen - Abwehr- oder Ausweichreaktion gekommen ist. Auch diese wird
gegebenenfalls dem Betrieb des Kraftfahrzeugs zugerechnet. Es ist auch nicht erforderlich, dass die von dem Geschädigten vorgenommene Ausweichreaktion aus seiner Sicht, also
subjektiv erforderlich war oder sich gar für ihn als die einzige Möglichkeit darstellte, um eine Kollision zu vermeiden. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob der Fahrer des
geschädigten Fahrzeugs einen Zusammenstoß mit dem anderen Fahrzeug auf andere Weise, etwa durch Abbremsen, hätte verhindern können (BGH v. 21.09.2010 - VI ZR 263/09 - juris Rn. 6
- NJW 2010, 3713; BGH v. 21.09.2010 - VI ZR 265/09 - juris Rn. 6 - SVR 2010, 466; Laws/Lohmeyer/Vinke in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl. 2016, § 7 StVG Rn. 35, 36).
3. Hiervon ausgehend ereignete sich der Verkehrsunfall bei dem Betrieb des von dem Beklagten zu 1) gesteuerten Traktors. Die Ausweichreaktion des Zeugen E erfolgte in der
beiderseitigen Annäherung der beiden Traktoren und galt daher ersichtlich mit Blick auf den entgegenkommenden Traktor des Beklagten zu 1) einem Ausweichmanöver. Ob der Zeuge E
zuvor in anderer Weise auf den Gegenverkehr hätte reagieren können, ist nach den obigen Ausführungen für die Haftung nach §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG ohne Belang.
4. Die somit nach § 17 Abs. 2 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge ist aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. In
erster Linie ist hierbei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben;
das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (BGH v. 27.05.2014 - VI ZR 279/13 - juris - VersR 2014, 894). Berücksichtigung finden nur die unstreitigen und die
bewiesenen unfallursächlich gewordenen Verursachungsbeiträge. Dies führt vorliegend zu einer Haftungsverteilung zu gleichen Anteilen.
5. Entgegen der Ansicht des Landgerichts findet vorliegend im Rahmen der Abwägung nicht nur die von den beiden Fahrzeugen jeweils ausgehende Betriebsgefahr Berücksichtigung.
In die Abwägung fließt vielmehr auf beiden Seiten auch ein unfallursächlich gewordenes Verschulden der beiden Fahrzeugführer wegen eines schuldhaften und unfallursächlichen
Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO ein, weil beide den ihnen obliegenden besonderen Sorgfaltspflichten bei der Begegnung auf schmaler Straße nicht nachgekommen sind.
Eine Begegnung durfte vorliegend nur dann in beiderseitiger zügiger Fahrt durchgeführt werden, wenn zwischen den sich begegnenden Fahrzeugen unter Berücksichtigung des nötigen
Abstandes zum rechten Fahrbahnrand ein Seitenabstand von mindestens einem Meter eingehalten werden kann. Kann dieser Seitenabstand nicht eingehalten werden, muss nach § 1 Abs. 2
StVO sein Fehlen durch eine besonders vorsichtige Durchführung der Begegnung und Herabsetzung der beiderseitigen Fahrgeschwindigkeiten ausgeglichen werden. Reicht auch dies nicht,
so haben beide Fahrzeugführer anzuhalten und sich darüber zu verständigen, welcher von ihnen am stehenden Fahrzeug des anderen in langsamer Fahrt vorbeifährt (Heß in
Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht 24. Aufl. § 2 Rn. 70).
6. Hiervon ausgehend haben beide Fahrzeugführer die sich aus § 1 Abs. 2 StVO ergebenden besonderen Sorgfaltspflichten nicht beachtet.
Die Breite der Straße betrug 5,8 m, so dass jedem Fahrzeugführer ein Fahrstreifen von 2,9 m zur Verfügung stand. Die Breite des von dem Beklagten zu 1) mitgeführten Fasswagens
betrug bei der Nachbesichtigung durch den Sachverständigen Prof. T 3,03 m. Ob der Fasswagen im Unfallzeitpunkt noch etwas breiter war, weil die im Begutachtungszeitpunkt
vorhandenen Streuer nicht denen entsprachen, die im Unfallzeitpunkt angebracht waren, vermochte der Sachverständige nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen. Im
Ergebnis kann dies aber auch dahingestellt bleiben. Das dem Traktor des Klägers angehängte Ackergerät vom Typ Catros 4001- 2 Ts der Amazonen-Werke hat nach den Feststellungen des
Sachverständigen eine Transportbreite von 2,85 m.
Die Breite beider Fahrzeuge erlaubte in keinem Fall ein gegenseitiges Passieren unter alleiniger Nutzung der Fahrbahnbreite von 5,80 m. Selbst unter Inanspruchnahme der 20 cm
breiten Bankette war ein Aneinandervorbeifahren, insbesondere unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden seitlichen Wankbewegungen, und des aus diesem Grund
einzuhaltenden ausreichenden Seitenabstandes nicht problemlos möglich. Um eine Kollision im Begegnungsverkehr sicher auszuschließen, musste der Zeuge E mit seinem Traktor in den
Grünstreifen ausweichen. Beide Fahrzeugführer hätten daher ihre Geschwindigkeit in der gegenseitigen Annäherung gegebenenfalls bis zur Schrittgeschwindigkeit reduzieren und
notfalls anhalten müssen, um - gegebenenfalls nach vorheriger Verständigung - ein gefahrloses Passieren zu ermöglichen. Diesen erhöhten Sorgfaltsanforderungen haben beide
Fahrzeugführer nicht Rechnung getragen. Beide sind mit einer für die konkrete Situation unangepassten Geschwindigkeit aufeinander zugefahren und haben gegenseitig darauf vertraut,
dass der jeweils andere noch weiter Platz schafft. Unangemessen ist dabei nicht nur die Geschwindigkeit des Zeugen E, die dieser mit 35 km/h bis 40 km/h bei Ausweichen auf den
Grünstreifen angegeben hat. Auch die von dem Beklagten zu 1) bei seiner persönlichen Anhörung durch den Senat eingeräumte, und nicht weiter reduzierte Geschwindigkeit von ca. 30
km/h ist mit Blick auf die nicht ausreichende Straßenbreite deutlich übersetzt, weil sie eine angemessene Reaktion auf die konkrete Situation nicht zulässt.
7. Ein darüber hinaus gehendes Verschulden des Zeugen E vermag der Senat nicht festzustellen. Dass der Zeuge mit einer für die gegenseitige Annäherung übersetzten Geschwindigkeit
in den Grünstreifen eingefahren ist, dies vielmehr gefahrlos nur mit Schrittgeschwindigkeit hätte machen dürfen, begründet nicht einen weiteren Vorwurf gegenüber dem Zeugen. Die
in der konkreten Situation unangepasste Geschwindigkeit ist bereits im Rahmen des schuldhaften Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO berücksichtigt worden.
8. Der von den Beklagten auf § 1 Abs. 2 StVO gestützte Vorwurf einer schuldhaft falschen Reaktion des Zeugen E bei Durchfahrung des Grünstreifens ist nach den sachverständigen
Ausführungen des Prof. T2 widerlegt. Das Gespann aus Traktor und Grubber war nach den Erläuterungen des Sachverständigen wegen der ungünstigen Gewichtsverteilung und des kurzen
Radstandes besonders instabil. Schon das Überfahren der Kante des Seitenstreifens mit den rechten Reifen in Richtung Grünstreifen führe bei isolierter Betrachtung zu erheblichen
Problemen. Diese Probleme haben sich durch das Durchfahren der Bodenmulde deutlich verstärkt, so dass sich das Gespann so aufgeschaukelt hat, dass der Fahrer, ohne noch einwirken
zu können, die Kontrolle hierüber völlig verliert und sich das Gespann überrollt.
9. Auf der Grundlage der danach vorzunehmenden gleichmäßigen Haftungsverteilung steht dem Kläger der von dem Landgericht zuerkannte Betrag zum Ausgleich des ihm durch den Unfall
entstandenen und der Höhe nach unstreitigen Schadens zu.
10. Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht, § 543 ZPO.