Überraschungsentscheidung bei Aufnahme neuen
(entscheidenden) Gesichtspunkt erst im Urteil
BFH, Beschluss vom
10.01.2024 - IX B 9/23 -
Kurze Inhaltsangabe:
Im Streit war die Zurechnung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung. Die Klägerin behauptete, der Beigeladene habe die Vermietung (in dem in ihrem Eigentum stehenden Haus) als
Eigengeschäft behandelt, demgegenüber das Finanzamt (FA) die Einkünfte der Klägerin zurechnete. Zu dem vom Finanzgericht anberaumten Termin erschien die Klägerin nicht (was bei einem Verfahren
vor dem Finanzgericht für die Beteiligten grundsätzlich nicht notwendig ist). Die Klage wurde vom Finanzgericht (FG)als unbegründet abgewiesen. Zwar habe der Beigeladene bei Abschluss und
Durchführung der Mietverträge im eigenen Namen gehandelt, doch seien die Einkünfte ihr aus einem Treuhandverhältnis zuzurechnen. Diese Annahme sei gerechtfertigt, da die Klägerin die Einnahmen
aus Vermietung und Verpachtung über Jahre erklärt habe und erstmals im Streitjahr in Abrede gestellt habe.
Die gegen das Urteil eingelegte Beschwerde zum BFH hatte Erfolg und führte zur Zurückweisung an das Finanzgericht. Der BFH sah in dem Urteil eine Überraschungsentscheidung, weshalb der Anspruch
der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt worden sei.
Eine Überraschungsentscheidung läge vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder bekannt rechtlichen Gesichtspunkt stütze und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gebe,
mit der ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Auffassungen nicht rechnen müsse. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der
entscheidungserhebliche Umstand erst im Endurteil benannt würde (BFH, Beschluss vom 23.02.2017 - IX B 2/17 -). Zwar müsse ein (wie hier gar durch einen Steuerberater sachkundig vertretener)
Verfahrensbeteiligter alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen, auch wenn die Rechtsalge umstritten oder problematisch sei (BVerfG,
Beschluss vom 19.05.1992 –-1 BvR 986/91 -). Allerdings müsse er nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen würde, der weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das
Verfahren eingeführt hätten.
Zudem müsse das FG im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten nach pflichtgemäßen Ermessen prüfen, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Im Rahmen dessen sei es
verpflichtet zu vertagen, wenn die Entscheidung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt wurde (BFH,
Beschluss vom 19.05.2020 - VII B 114/19 -).
Vorliegend habe das FG den Gesichtspunkt des Treuhandverhältnisses erstmals im Urteil in das Verfahren eingeführt. Vorher sei dies weder im Veranlagungs- noch im Einspruchsverfahren und auch
nicht in wechselseitigen Schriftsätzen im Verfahren angesprochen worden. Ebenso lässt sich aus dem Protokoll der Verhandlung nicht ersehen, dass ein Hinweis erfolgt wäre.
Da in der Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Verzicht auf die Einhaltung von Verfahrensvorschriften iSv. § 295 ZPO iVm. § 155 FGO läge, habe die Klägerin ihr Rügerecht nicht durch
Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge beim FG verloren. Denn auch wenn die Klägerin an der Verhandlung teilgenommen hätte, hätte sie erst aus dem Urteil erfahren, dass sich das FG auf einen bisher
nicht erörterten Gesichtspunkt stützt.
Das FG würde nun unter Berücksichtigung des Vortrags der Parteien zu prüfen haben, ob und in welchem Umfang das von ihm angenommene Treuhandverhältnis den Anforderungen der Rechtsprechung (so
BFH, Urteil vom 12.07.2016 – IX R 21/15 -) sowie den Anforderungen an Verträgen zwischen Angehörigen (§ 15 Abs. 2 Nr. 1 AO) entspreche.
Aus den Gründen:
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 10.01.2023 - 1 K 114/19 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Hamburg zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Zurechnung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) war im Streitjahr 2015 Eigentümerin des Objekts A-Straße in Z-Stadt. Die Klägerin nutzte das Objekt nicht zu eigenen Wohnzwecken. Auf einer
Teilfläche des Objekts wohnte der geschiedene Ehemann der Klägerin (Beigeladener). Die übrige Wohnfläche wurde vermietet. Bei den Vermietungen handelte der Beigeladene selbst als Vermieter und
vereinnahmte die Mietzahlungen.
In ihrer Steuererklärung für das Streitjahr erklärte die Klägerin --wie auch in den Vorjahren-- Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für das Objekt A-Straße. Im Rahmen der Veranlagung kam es
zum Streit mit dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) unter anderem darüber, ob die Mieteinkünfte von der Klägerin oder dem Beigeladenen zu versteuern seien. Im
Einkommensteuerbescheid 2015 vom 06.04.2017 setzte das FA bei der Klägerin Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 15.114 € an. Die Klägerin legte dagegen Einspruch ein und
wandte sich gegen die Zurechnung der Vermietungseinkünfte. Das FA hielt im Einspruchsverfahren daran fest, dass der Klägerin als Eigentümerin die Einkünfte aus dem Vermietungsobjekt zuzurechnen
seien. Dies gelte auch, wenn ihr die Einnahmen vom Beigeladenen vorenthalten worden seien. Zudem kündigte das FA aufgrund nicht anzuerkennender Werbungskosten eine Verböserung an. Der Einspruch
wurde anschließend als unbegründet zurückgewiesen. Die der Klägerin zugerechneten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung wurden mit 26.041 € angesetzt.
Die Klägerin erhob gegen die Einspruchsentscheidung Klage und hielt an ihrem bisherigen Vorbringen fest. Der Beigeladene habe die Vermietung als Eigengeschäft betrieben. Es sei keine Verwaltung
in ihrem Auftrag durch den Beigeladenen erfolgt.
Am 21.09.2022 wurde der Beigeladene vom Finanzgericht (FG) durch Beschluss beigeladen.
In der für den 10.01.2023 geladenen mündlichen Verhandlung erschien die Klägerin nicht. Die Klage wurde mit Urteil vom 10.01.2023 - 1 K 114/19 als unbegründet abgewiesen. Das FG
führte aus, die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 26.041 € seien zu Recht der Klägerin zugerechnet worden. Einkünfte seien demjenigen zuzurechnen, der sie "erziele". Der
Beigeladene habe zwar bei Abschluss und Durchführung der Mietverträge im eigenen Namen gehandelt. Allerdings seien die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Klägerin aufgrund eines
Treuhandverhältnisses zwischen ihr und dem Beigeladenen zuzurechnen. Nach umfassender Würdigung der Umstände des Einzelfalls sei das FG davon überzeugt, dass im Hinblick auf das Vermietungsobjekt
A-Straße ein Treuhandverhältnis bestanden habe. Diese Annahme werde dadurch unterstützt, dass die Klägerin über Jahre hinweg die Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung aus diesem Objekt erklärt
habe und dies nunmehr erstmals für das Streitjahr in Abrede stelle. Diese Änderung des jahrelangen Erklärungsverhaltens überzeuge nicht.
Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin unter anderem die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln. Es liege mit der Annahme eines Treuhandverhältnisses eine Überraschungsentscheidung
vor. Bei einem rechtzeitigen Hinweis hätte sie neben weiteren Äußerungen auf die Darlegungs- und Beweislast hingewiesen und zudem einen Antrag auf Vernehmung eines Zeugen gestellt. Auch bei der
Berücksichtigung der Werbungskosten sei es zu einem überraschenden Ergebnis gekommen. Weiter sei die Pflicht zur Sachaufklärung vom FG verletzt und die Entscheidung nicht am Schluss der Sitzung
verkündet worden.
Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das angefochtene
Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Das FG hat ein Überraschungsurteil erlassen und damit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt.
a) Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit
dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen
Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom FG erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (z.B.
Senatsbeschlüsse vom 23.02.2017 - IX B 2/17, Rz 15 und vom 12.01.2023 - IX B 29/22, Rz 2). Zwar muss ein --zumal durch einen Steuerberater sachkundig
vertretener-- Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag
darauf einstellen (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133, unter C.III.1.a; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl.,
§ 119 Rz 15, m.w.N.). Er muss aber nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen wird, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt
haben.
Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das FG nach pflichtgemäßem Ermessen zudem darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen
seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten
bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19.05.2020 - VIII B 114/19, Rz 6).
b) So liegt der Streitfall. Zwischen den Beteiligten war zwar bis zur Entscheidung des FG streitig, ob der Klägerin die Vermietungseinkünfte aus dem Objekt A-Straße zuzurechnen sind. Den
Gesichtspunkt, dass die Zurechnung aufgrund eines steuerlich anzuerkennenden Treuhandverhältnisses erfolgt, hat das FG jedoch erstmals im Urteil vom 10.01.2023 - 1 K 114/19 in das
Verfahren eingeführt. Weder im Veranlagungs- und Einspruchsverfahren noch im Rahmen des Schriftsatzaustauschs während des finanzgerichtlichen Verfahrens ist dieser Gesichtspunkt angesprochen
worden. Ein wegen des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und der prozessualen Fürsorgepflicht gebotener Hinweis des FG dazu war nicht erfolgt. Auch dem Protokoll der Sitzung vom
10.01.2023 lässt sich kein Hinweis entnehmen, dass dieser Punkt in der mündlichen Verhandlung angesprochen worden ist.
Die Klägerin hat ihr Rügerecht nicht durch Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge (in der Vorinstanz) verloren, da in der bloßen Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Verzicht auf die
Einhaltung der Verfahrensvorschriften im Sinne von § 295 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO liegt (vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 28.07.1998 - VI B 76/98, BFH/NV
1999, 200, unter 1.a, m.w.N. und vom 10.02.2015 - V B 87/14, Rz 13). Denn auch wenn die Klägerin an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hätte, hätte sie erst aus dem
Urteil erfahren, dass das FG seine Entscheidung auf einen bisher nicht erörterten Umstand gestützt hat. Stattdessen war das FG zur Vertagung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, da es die
Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte gestützt hat, zu denen der Klägerin zuvor kein rechtliches Gehör gewährt worden war (vgl. BFH-Beschluss vom 19.05.2020 - VIII B 114/19,
Rz 12).
2. Auf die übrigen, von der Klägerin gerügten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) kommt es daher nicht mehr entscheidungserheblich an. Von einer weiteren Begründung
wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO gilt, abgesehen.
3. Der Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung zurückzuverweisen. Dabei wird das FG unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten zu prüfen haben, ob und in welchem Umfang das von ihm angenommene Treuhandverhältnis den
Anforderungen der Rechtsprechung (vgl. u.a. Senatsurteile vom 12.07.2016 - IX R 21/15, Rz 23; vom 08.11.2017 - IX R 25/16, Rz 16 und vom 15.11.2022 -
IX R 4/20, BFHE 278, 519, BStBl II 2023, 389, Rz 22, jeweils m.w.N.) sowie den Anforderungen an Verträge zwischen Angehörigen (vgl. § 15 Abs. 2 Nr. 1 der
Abgabenordnung) genügt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.