Verstoß gegen gesetzlichen Richter oder faires Verfahren bei
fehlenden „Nahblick“ auf Richterbank ?
BVerfG, Beschluss vom
15.01.2024 - 1 BvR 1615/23 -
Kurze Inhaltsangabe:
Im Rahmen der Verhandlung, die auf Antrag der Beschwerdeführer als Videoverhandlung (§ 91a FGO; diese Norm entspricht § 128a ZPO) durchgeführt wurde, wurde nur eine Kamera im Gerichtssaal
eingesetzt, die die Richterbank in der Totalen (also alle Richter zusammen) abbildete, mangels einer von den Beschwerdeführern steuerbaren Zoomfunktion diesen – so ihr Vorwurf – nicht die
Möglichkeit gegeben habe, die Unvoreingenommenheit der Richter durch einen Blick ins Gesicht zu prüfen. Die Beschwerdeführer beriefen sich in ihrer Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung
des Bundesfinanzhofes (BFH) auf eine Verletzung des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nahm die Beschwerde nicht zu Entscheidung an.
Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bestimme, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe. Grundsätzlich bedeute dies, dass kein anderer Richter tätig werden dürfe, der nicht nach
allgemeinen Normen des Gesetzes und der Geschäftsverteilungspläne zur Entscheidung berufen sei. Allerdings könne Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht al eine formale Bestimmung verstanden werden, die
stets dann bereits erfüllt sei, wenn die Richterzuständigkeit allgemein und eindeutig geregelt sei. Vielmehr gewährleiste das Grundgesetz den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens auch einen
unabhängigen und unparteilichen Richter. Neben sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG) sei es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des
Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit nicht von einem „nicht beteiligten Dritten“ ausgeübt würde. Die richterliche Tätigkeit erfordere daher eine unbedingte Neutralität gegenüber den
Verfahrensbeteiligten. Dies sei auch zugleich ein gebot der Rechtsstaatlichkeit. Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines Richters sprechen, berühre so die Rechtsstellung der
Verfahrensbeteiligten.
Es würde von den Beschwerdeführern nicht eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung bei dem Finanzgericht (FG) gerügt, vielmehr beanstandet, dass keine von ihnen steuerbare Zoomfunktion bestanden
habe, und damit nicht die Möglichkeit bestanden habe, die über die Vollzähligkeit hinausgehende mentale Anwesenheit und Unvoreingenommenheit der Richterbank überprüfen zu können, also ein
eventueller Befangenheitsgrund nicht erkennbar gewesen wäre. Dies genüge alleine aber noch nicht, auf einen bösen Schein oder einen Verdacht der Befangenheit zu schließen, der zu einer Verletzung
des Rechts auf den gesetzlichen Richter führen könne. Nur die unrichtige Besetzung, nicht aber die fehlende Möglichkeit von deren (rechtzeitiger) Überprüfung begründe die Verletzung des Rechts
auf den gesetzlichen Richter (anders BFH, Beschluss vom 30.06.2023 – V B 13/22 -). Damit führe ein fehlender Nahblick und eine dadurch begründete Unsicherheit, ob Verhalten oder Mimik für eine
Befangenheit sprechen könnten, nicht zur fehlerhaften Besetzung. Der Schutz des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG könne nicht auf den Bereich der Möglichkeit vorverlagert werden.
Durch eine fehlende Überprüfungsmöglichkeit der Unvoreingenommenheit könne gegebenenfalls das Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden sein (worauf sich die Beschwerdeführer aber nicht
bezogen hätten und welches nach ihrem Vortrag hier auch nicht vorgelegen habe).
Zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens gehöre ein Faires Verfahrens, welches seine Grundlagen im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1
Abs. 1 GG habe. Das faire Verfahren bedürfe je nach sachlichen Gegebenheiten einer Konkretisierung. Die Gerichte hätten den Schutzgehalte der in Frage stehenden Verfahrensnormen und anschließend
die Rechtsfolgen ihrer Verletzung zu bestimmen. Dabei seien Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren angemessen zu berücksichtigen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf
der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibe. Die Verkennung des Schutzgehalts einer Verfahrensnorm könne daher in das Recht eines Beteiligten auf ein faires Verfahren eingreifen.
Es sei daher denkbar, dass das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen des § 91a FGO eine Überprüfungsmöglichkeit der Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank für die Beteiligten
gewährleiste. Auch sei nicht auszuschließen, dass bei dem derzeitigen Stand, wenn aus der Distanz gefilmt würde, damit die gesamte Richterbank erscheine, je nach räumlichen Gegebenheiten oder
ggf. der Qualität der technischen Hilfsmittel die Beobachtungsmöglichkeit eingeschränkt sein könnte und hinter jener bei Anwesenheit vor Ort zurückbleiben könnte.
Diese Möglichkeit wurde hier aber als für die Beschwerde vom BVerfG schon deshalb nicht als tragfähig angesehen. Die Beschwerdeführer, die selbst die Videoverhandlung beantragt hätten, hätten
ihre konkrete Situation nicht hinreichend substantiiert beschrieben, um in ihrem Fall die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren beurteilen zu können. So sei nicht erkennbar, dass
eine fehlende Kontrollmöglichkeit nicht auf einer unzureichenden eigenen Ausstattung beruht habe oder wie die konkreten örtlichen Gegebenheiten und die Übertragungsqualität sowie wie sich etwaige
dadurch bedingte Einschränkungen dargestellt hätten. Es könne daher nicht abschließend beurteilt werden, ob tatsächlich keine Kontrollmöglichkeit bestanden habe.
Zudem hätten es die Beschwerdeführer entgegen den Anforderungen aus dem aus § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG abgeleiteten Grundsatz der Subsidiarität nicht dargelegt, dass sie im Laufe der
Verhandlung vor dem FG etwaige Einschränkungen der Beobachtungsfähigkeit von Verhalten oder nonverbaler Kommunikation beanstandet hätten.
Aus den Gründen:
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
1. Die Beschwerdeführer sehen sich in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, weil ihnen im Rahmen der von ihnen nach § 91a
FGO beantragten Videoverhandlung durch den Einsatz nur einer Kamera, die die gesamte Richterbank in der Totalen abbildete, und mangels von ihnen steuerbarer Zoomfunktion die Möglichkeit genommen
worden sei, die Unvoreingenommenheit der Richter durch einen Blick ins Gesicht zu überprüfen.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder
grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, weil die wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen zum Recht auf den gesetzlichen Richter in diesem Zusammenhang geklärt sind, noch ist ihre
Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt. Eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter wegen eines fehlenden
Nahblicks in die Gesichter der Richter im Laufe einer Vi-deoverhandlung erscheint nicht möglich.
a) Nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Das bedeutet zunächst, dass in jedem Einzelfall kein anderer als derjenige
Richter tätig werden und entscheiden soll, der in den allgemeinen Normen der Gesetze und der Geschäftsverteilungspläne der Gerichte dafür vorgesehen ist (vgl. BVerfGE 4, 412 <416>; BVerfG,
Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Juli 2021 - 2 BvR 890/20 -, Rn. 13). Der Verfassungsbestimmung muss aber eine weitergehende Bedeutung beigemessen werden. Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG kann nicht als eine nur formale Bestimmung verstanden werden, die stets schon dann erfüllt ist, wenn die Richterzuständigkeit allgemein und eindeutig geregelt ist (vgl.
BVerfGE 21, 139 <145>).
Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens darüber hinaus, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und
Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet. Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 und Abs. 2 GG)
ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von einem "nicht beteiligten Dritten" ausgeübt wird. Diese Vorstellung von neutraler
Amtsführung ist mit den Begriffen "Richter" und "Gericht" untrennbar verknüpft. Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neu-tralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Das Recht
auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt deshalb nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den
Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergebenden Richter, sondern garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einem Richter steht, der aufgrund persönlicher oder
sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt. Dieses Verlangen nach Unvoreingenommenheit und Neutralität des Richters ist
zugleich ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit (vgl. BVerfGE 133, 168 <202 f., Rn. 62> m.w.N.). Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines Richters sprechen, berührt so die
prozessuale Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten (vgl. BVerfGE 89, 28 <36>).
b) Hieran gemessen stellen die angegriffenen Entscheidungen keinen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar.
Die Beschwerdeführer bemängeln gerade nicht, dass das Finanzgericht tatsächlich nicht vorschriftsmäßig besetzt war, weil die Richter nach Gesetz oder Geschäftsverteilung nicht zu einer Mitwirkung
bestimmt gewesen wären oder sie nicht die gebotene Neutralität und Unabhängigkeit aufgewiesen hätten. Sie beanstanden vielmehr, dass während der Videoverhandlung nur eine einzige Kamera (ohne
ihrerseits steuerbare Zoomfunktion) zum Einsatz gekommen ist und daher nicht die Möglichkeit bestanden habe, die über die Vollzähligkeit hinausgehende mentale Anwesenheit und Unvoreingenommenheit
der Richterbank überprüfen zu können. Gerügt wird damit im Kern, dass insbesondere ein etwaiger Befangenheitsgrund für die Beschwerdeführer gegebenenfalls nicht erkennbar gewesen wäre.
Dies allein genügt aber noch nicht, um auf das Vorliegen eines bösen Scheins oder eines Verdachts der Befangenheit, die zu einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter führen könnten,
zu schließen. Nur die unrichtige Besetzung, nicht die fehlende Möglichkeit von deren (rechtzeitiger) Überprüfung begründet eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (anders der
Bundesfinanzhof im Beschluss vom 30. Juni 2023 - V B 13/22 -, BFH/NV 2023, 1175 ff.). Entsprechend führt nur der tatsächlich befangene Richter, nicht dagegen der fehlende Nahblick und die damit
einhergehende Unsicherheit, ob Verhalten oder Gestik und Mimik für eine Befangenheit sprechen könnten, zu einer fehlerhaften Besetzung des Gerichts. Der Schutz des Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG kann nicht in den Bereich bloß möglicher Verletzungen vorverlagert werden. Anderenfalls würde der gesetzliche Richter auch an spekulativen Erwägungen und dem Einlassungsgeschick
der Beteiligten gemessen werden.
3. Durch die fehlende Überprüfungsmöglichkeit der Unvoreingenommenheit kann gegebenenfalls das Recht auf ein faires Verfahren verletzt werden. Einen Verstoß gegen dieses Prozessgrundrecht
haben die Beschwerdeführer allerdings schon von vornherein nicht gerügt. Sie haben sich ausdrücklich und durchgängig nur auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützt. Ein solcher Verstoß
käme aber ausgehend von ihrem Vortrag vorliegend auch nicht als möglich in Betracht.
a) Das Recht auf ein faires Verfahren hat seine Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.>;
118, 212 <230 f.>; 122, 248 <271>) und gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 46, 202 <210>). Es enthält
keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote; vielmehr bedarf es der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten (vgl. BVerfGE 57, 250 <275 f.>; 70, 297 <308>;
130, 1 <25>). Diese Konkretisierung ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers und sodann, in den vom Gesetz gezogenen Grenzen, Pflicht der zuständigen Gerichte bei der ihnen obliegenden
Rechtsauslegung und -anwendung (vgl. BVerfGE 63, 45 <61>; 64, 135 <145>; 122, 248 <272>; 133, 168 <200 Rn. 59>). Die Gerichte haben den Schutzgehalt der in Frage stehenden
Verfahrensnormen und anschließend die Rechtsfolgen ihrer Verletzung zu bestimmen. Dabei sind Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren angemessen zu berücksichtigen, damit
dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. zur Bedeutung der Grundrechte als objektive Wertordnung BVerfGE 7, 198 <205 ff.>; stRspr). Die
Verkennung des Schutzgehalts einer verletzten Verfahrensnorm kann somit in das Recht des Beteiligten auf ein faires Verfahren eingreifen (vgl. BVerfGK 9, 174 <188 f.>; 17, 319 <328>;
BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2015 - 2 BvR 2055/14 -, Rn. 14 und vom 9. Dezember 2015 - 2 BvR 1043/15 -, Rn. 6).
b) Hieran gemessen ist durchaus denkbar, dass das Recht auf ein faires Verfahren gebietet, bei Anwendung des § 91a FGO zu beachten, dass eine hinreichende Überprüfungsmöglichkeit
betreffend die Neutralität und Unabhängigkeit der Richterbank für die Beteiligten gewährleistet bleibt. Auch ist nicht auszuschließen, dass die Beobachtungsmöglichkeiten bei Videoverhandlungen
nach derzeitigem Stand, gerade wenn aus der Distanz gefilmt wird, damit die gesamte Richterbank erscheint, je nach den räumlichen Gegebenheiten oder gegebenenfalls der Qualität der eingesetzten
technischen Hilfsmittel durchaus eingeschränkt sein und hinter der Beobachtungsmöglichkeit bei Anwesenheit vor Ort zurückbleiben können.
Allerdings haben die Beschwerdeführer, die die Durchführung einer Videoverhandlung selbst beantragt haben, ihre konkrete Situation vorliegend nicht hinreichend substantiiert beschrieben, um in
ihrem Fall die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren beurteilen zu können. Insbesondere geht aus ihrem Vortrag nicht hervor, dass eine fehlende Kontrollmöglichkeit nicht auf einer
unzureichenden eigenen Ausstattung beruhte oder wie sich die konkreten örtlichen Gegebenheiten und die Übertragungsqualität sowie etwaige dadurch bedingte Einschränkungen darstellten. Ob daher
tatsächlich keine Kontrollmöglichkeiten bestanden, kann nicht abschließend beurteilt werden.
4. Im Übrigen ist auch nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführer im Laufe der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht etwaige Einschränkungen bei der Beobachtungsfähigkeit von
Verhalten oder nonverbaler Kommunikation beanstandet hätten. Damit ist auch die Wahrung der Anforderungen aus dem aus § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG abgeleiteten Grundsatz der
Subsidiarität nicht dargetan.
5. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.