Prozessrecht

Rechtliches Gehör: Wann muss Vortrag nach Schluss der mündlichen Verhandlung vom Gericht zwingend berücksichtigt werden ?

BGH, Beschluss vom 21.01.2020 - VI ZR 346/18 -

Kurze Inhaltsangabe:

 

Das rechtliche Gehör und dessen Verletzung beschäftigt immer wieder die Instanzgerichte bis hin zum BGH. Da es sich bei der Gewährung rechtlichen Gehörs um einen verfassungsrechtlichen Anspruch der Partei vor Gericht handelt (Art. 103 GG), weshalb an sich die Gerichte dem eine erhebliche Bedeutung beimessen sollten.

 

Während das Landgericht der Klage auch weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz gegen eine Apothekerin nach fehlerhafter Herstellung eines Medikaments un Hinblick auf weiteren Huashaltsführungsschaden des Klägers statt gab und das Begehren auf weiteres Schmerzensgeld abwies, hat das Berufungsgericht (OLG Stuttgart) auf die Berufung des Klägers  diesem ein weiteres Schmerzensgeld zugesprochen und auf die Anschlußberufung der Beklagten hin den Anspruch auf den weiteren Haushaltsführungsschaden abgewiesen. Der vom Kläger erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde half der BGH im Hinblick auf den Haushaltsführungsschaden durch Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung ab.

 

Die Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung durch Abweisung des Begehrens auf den Haushaltsführungsschaden habe das OLG damit begründet, dass der Kläger auf einen Hinweis des Senats des OLG (im Verhandlungstermin, auf dem das Urteil ergibt) nicht vorgetragen habe, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er für seine Pflege und Betreuung und in Abgrenzung dazu, welche Zeiten er für die Haushaltsführung geltend mache. Erst nach der mündlichen Verhandlung sei Vortrag dazu erfolgt, was verspätet sei, wobei der Kläger es auch unterlassen habe, nach dem Hinweis im Termin einen Schriftsatznachlass gem. § 239 Abs. 5 ZPO zum ergänzenden Vortrag zu dem Hinweis zu stellen. Von daher sei auch nach dem verspäteten Vortrag die mündliche Verhandlung nicht wiederzueröffnen.

 

Diese Nichtberücksichtigung verstößt nach Auffassung des BGH vorliegend gegen die Gewährung rechtlichen Gehörs. Art. 103 Abs. 1 GG. Das rechtliche Gehör würde verletzt, wenn Vortrag unberücksichtigt bleibe, ohne dass dies im Prozessrecht eine Stütze finde. Dieser Fall sei vorliegend gegeben.

 

Eine in erster Instanz siegreiche Partei dürfe darauf vertrauen,  vom Berufungsgericht einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will. Grundsätzlich habe der Hinweis so rechtzeitig zu erfolgen, dass die betroffene Partei noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung darauf reagieren könne, § 139 Abs. 4 ZPO.  Würde  - wie hier – der Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung erfolgen, so müsse der Partei genügend Gelegenheit gegeben werden, darauf zu reagieren. Sei offensichtlich, dass die Partei in der mündlichen Verhandlung nicht reagieren könne, so müsse das Gericht entweder in das schriftliche Verfahren überleiten oder (auch ohne entsprechendne Antrag auf Schriftsatznachlass) vertagen, um Gelegenheit zur Stellungnahme zu gewähren.  

 

Gegen diese Pflichten habe das OLG verstoßen. Der Hinweis sei erst in der Berufungsverhandlung erteilt worden. Diese sei geschlossen worden, obwohl dem Kläger wegen des mit dem Hinweis verbundenen Rechercheaufwandes eine sofortige Erklärung nicht möglich gewesen sei. Wegen dieses Verfahrensfehlers sei das OLG verpflichtet gewesen, sich mit dem Vortrag des Klägers in dem nicht nachgelassenen Schriftsatz auseinanderzusetzen, was nicht stattfand.

 

Etwas anderes ergäbe sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger es verabsäumte, Schriftsatznachlass zu beantragen (s.o.; BGH, Beschlüsse vom 04.07.2013 - V ZR 151/12 - und vom 18.99.2006 - II ZR 10/05 -).

 

Ebenfalls sei der Umstand nicht durchgreifend, dass der Hinweis durch das OLG bereits erstinstanzlich (als auch im Berufungsverfahren) den Einwand erhoben habe, daß die Tätigkeit der Lebensgefährtin nicht zeitgleich der Haushaltsführung und der Pflege des Klägers gedient habem könne. Diese Hinweise des Gegners müssen den Kläger nicht notwendig zu der Annahme veranlassen, dem würde das Berufungsgericht folgen und damit eine andere Rechtsansicht als das Landgericht vertreten, weshalb vorsorglich der eigene Vortrag zu ergänzen sei (BGH, Beschluss vom 21.01.2016 - V ZR 183/15 -).

 

 

Der Gehörsverstoß sei auch erheblich. Der Kläger habe nach Schluss der mündlichen Verhandlung zu dem Hinweis weitergehend vorgetragen und es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das OLG über den Anspruch betreffend Ersatz des Haushaltsführungsschadens bei Berücksichtigung desselben anders als geschehen entschieden hätte.

 

Aus den Gründen:

 

 Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Juli 2018 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als auf die Berufung der Beklagten das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 22. Juni 2017 hinsichtlich des Haushaltsführungsschadens abgeändert und die Klage insoweit abgewiesen wurde.

 

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

 

Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart zurückgewiesen.

 

Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf bis zu 230.000 € festgesetzt.

 

Gründe

 

I.

 

Der Kläger verlangt von der beklagten Apothekerin nach fehlerhafter Herstellung eines Medikaments weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz.

 

Der im Jahr 1937 geborene Kläger leidet an Asthma. Er nahm deshalb über mehrere Jahre ein Medikament mit dem Wirkstoff Meprobamat in einer Dosierung von jeweils 100 mg ein. Die entsprechenden Kapseln wurden in der von der Beklagten betriebenen Apotheke hergestellt. Anfang April 2000 mischte die in der Apotheke der Beklagten mit der Zubereitung des Medikaments betraute pharmazeutisch-technische Assistentin anstelle der vorgesehenen 100 mg Meprobamat jeweils 100 mg Methadon in die Tablettenkapseln. Nachdem der Kläger die Kapseln zwischen dem 3. und 5. April 2000 abgeholt hatte, fand ihn seine Lebensgefährtin am 6. April 2000 komatös in seiner Wohnung auf. Im Krankenhaus wurden ein multiples Organversagen, eine schwere Blutvergiftung und eine durch den Magensaft verursachte Lungenentzündung festgestellt. Das Leben des Klägers konnte gerettet werden; er erlitt allerdings einen schweren Hirnschaden in Form einer hypoxischen Hirnschädigung. In der Folgezeit zahlte der Haftpflichtversicherer der Beklagten erhebliche Beträge auf die materiellen und immateriellen Schäden des Klägers. Mit seiner Klage verlangt der Kläger weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz, wobei es im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren alleine noch um ein weiteres Schmerzensgeld und den Ersatz des Haushaltsführungsschadens geht.

 

Das Landgericht hat dem Kläger kein weiteres Schmerzensgeld, wohl aber den Ersatz seines Haushaltsführungsschadens in Höhe von 162.513,64 € zugesprochen. Das Oberlandesgericht hat das landgerichtliche Urteil - soweit für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren von Bedeutung - auf die Berufung des Klägers in Bezug auf das Schmerzensgeld dahingehend abgeändert, dass es dem Kläger ein weiteres Schmerzensgeld von 24.341,76 € zugesprochen hat, und auf die Berufung der Beklagten dahingehend, dass es die Klage hinsichtlich des Haushaltsführungsschadens abgewiesen hat. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

 

II.

 

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat teilweise Erfolg. Sie führt hinsichtlich des dem Kläger vom Berufungsgericht versagten Haushaltsführungsschadens gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht (1.). Im Übrigen ist die Nichtzulassungsbeschwerde unbegründet (2.).

 

1. Das Berufungsurteil beruht insoweit auf einer Gehörsverletzung, als das Berufungsgericht das Urteil des Landgerichts in Bezug auf den Haushaltsführungsschaden abgeändert und die Klage abgewiesen hat.

 

a) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung insoweit ausgeführt, ein - dem Grunde nach gegebener - Anspruch auf Ersatz des Haushaltsführungsschadens scheitere im Streitfall daran, dass der Kläger, obgleich ihm vom (Berufungs-)Senat ein entsprechender Hinweis erteilt worden sei, bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht vorgetragen habe, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er für seine Pflege und Betreuung und - in Abgrenzung hierzu - für die Haushaltsführung geltend mache. Der insoweit nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltene Vortrag sei verspätet, ein Antrag auf Schriftsatznachlass gemäß § 139 Abs. 5 ZPO nicht gestellt worden. Ein Grund zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bestehe deshalb nicht.

 

b) Jedenfalls die Nichtberücksichtigung seines nach Schluss der mündlichen Verhandlung gehaltenen Vortrags verletzt den Kläger unter den Umständen des Streitfalls in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

 

aa) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer Partei haben. Lässt ein Gericht den Vortrag einer Partei unberücksichtigt, ohne dass dies im Prozessrecht eine Stütze findet, verletzt es damit deren Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. nur Senatsbeschluss vom 2. Oktober 2018 - VI ZR 213/17, NJW 2019, 1082 Rn. 6; BVerfGE 69, 141, 143 f.; jeweils mwN). Die Verfahrensweise des Berufungsgerichts findet im Gesetz keine Stütze mehr.

 

bb) Der Bundesgerichtshof entnimmt Art. 103 Abs. 1 GG in ständiger Rechtsprechung, dass eine in erster Instanz siegreiche Partei darauf vertrauen darf, vom Berufungsgericht einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und auf Grund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält; der Hinweis muss dabei grundsätzlich so rechtzeitig erteilt werden, dass der Berufungsbeklagte noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung reagieren kann (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 10. Oktober 2019 - V ZR 4/19 Rn. 7, juris; vom 11. April 2018 - VII ZR 177/17, NJW 2018, 2202 Rn. 8; vom 21. Januar 2016 - V ZR 183/15 Rn. 5, juris; vom 4. Juli 2013 - V ZR 151/12, NJW-RR 2014, 177 Rn. 8; ferner Senatsbeschluss vom 25. Mai 2018 - VI ZR 370/17, VersR 2018, 1001 Rn. 15; jeweils mwN). Erteilt das Berufungsgericht den Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, so muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Ist offensichtlich, das sich die Partei in der mündlichen Verhandlung nicht abschließend erklären kann, so muss das Gericht, wenn es nicht ins schriftliche Verfahren übergeht, die mündliche Verhandlung auch ohne einen Antrag auf Schriftsatznachlass vertagen, um Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (BGH, Beschlüsse vom 11. April 2018 - VII ZR 177/17, NJW 2018, 2202 Rn. 8; vom 27. September 2013 - V ZR 43/12 Rn. 12 ff., juris; vom 4. Juli 2013 - VII ZR 192/11, NJW-RR 2013, 1358 Rn. 7).

 

Gegen diese Pflichten hat das Berufungsgericht verstoßen. Es hat dem in erster Instanz in Bezug auf den Haushaltsführungsschaden siegreichen Kläger den Hinweis, es bedürfe einer Darstellung, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er als Pflege und Betreuung und - in Abgrenzung hierzu - für die Haushaltsführung geltend mache, erst in der mündlichen Berufungsverhandlung erteilt und diese geschlossen, obwohl dem Kläger eine sofortige Erklärung in der Sache angesichts des damit verbundenen Rechercheaufwandes ersichtlich nicht möglich war. Vor dem Hintergrund des darin liegenden Verfahrensfehlers war das Berufungsgericht im Rahmen des § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verpflichtet, sich mit dem nicht nachgelassenen Schriftsatz, in dem der Kläger auf den Hinweis reagiert hat, inhaltlich zu befassen und dessen Entscheidungserheblichkeit zu prüfen. Eine solche Prüfung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil es der Kläger versäumt hat, im Termin einen Schriftsatznachlass zu beantragen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Juli 2013 - V ZR 151/12, NJW-RR 2014, 177 Rn. 13 und vom 18. September 2006 - II ZR 10/05, WM 2006, 2328 Rn. 2 ff.; aA etwa Hk-ZPO/Wöstmann, 8. Aufl., § 139 Rn. 10; BeckOK ZPO/von Selle, 35. Ed. 1.1.2020, ZPO § 139 Rn. 49.1; jeweils mwN). Die abweichende Verfahrensweise des Berufungsgerichts findet im Prozessrecht keine Stütze mehr.

 

cc) Auch greift der Einwand der Beschwerdeerwiderung nicht, der verspätet erteilte Hinweis des Berufungsgerichts sei von vornherein nicht erforderlich gewesen, weil die Beklagte bereits in erster Instanz den Einwand erhoben habe, die Lebensgefährtin des Klägers könne nicht zur gleichen Zeit den Haushalt führen und die Pflege des Klägers übernehmen, weshalb die entsprechende Auffassung des Berufungsgerichts für den Kläger nicht überraschend gewesen sein könne. Denn der Einwand der Beklagten musste den Kläger nicht zur Annahme veranlassen, das Berufungsgericht halte ihn für zutreffend, den Vortrag des Klägers zum Haushaltsführungsschaden - anders als das Landgericht - also nicht für ausreichend, weshalb er jedenfalls vorsorglich ergänzend vorzutragen habe (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Januar 2016 - V ZR 183/15 Rn. 8, juris).

 

c) Der Gehörsverstoß ist erheblich. Der Kläger hat auf den vom Berufungsgericht in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis nach Schluss der mündlichen Verhandlung reagiert und zu den Tätigkeiten seiner Lebensgefährtin, insbesondere auch hinsichtlich des Bereichs "hauswirtschaftliche Versorgung", weiter vorgetragen. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht über den geltend gemachten Anspruch auf Ersatz des Haushaltsführungsschadens bei Berücksichtigung des gehörswidrig übergangenen Vortrags anders als geschehen entschieden hätte.

 

2. Im Übrigen war die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts auch insoweit erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

 

3. Das Berufungsgericht wird im Rahmen der erneuten Befassung auch die Möglichkeit haben, in eigener Zuständigkeit über den vom Kläger gestellten Urteilsberichtigungsantrag zu entscheiden.