Prozessrecht


Rechtliches Gehör: Urteilsgrundlage gerichtsbekannte Umstände und Vorprozesse

BGH, Beschluss vom 29.11.2023 - XII ZR 36/23 -

Die Beklagten hatten von der Klägerin Räume zum Betrieb eines Shisha-Cafés angemietet (Mietvertrag vom 06.09.2018). Die Beklagten erklärten am 10.09.2018 nach Abschluss des Mietvertrages mit anwaltlichen Schreiben die Anfechtung des Mietvertrags. Die Klägerin kündigte mit Schreiben vom 24.10.2018 das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs fristlos und forderte die Beklagten zur Räumung und Herausgabe der Schlüssel auf; zu einer Schlüsselrückgabe kam es nicht. Mit rechtskräftigen Urteil des Landgerichts vom 20.04.2020 stellte dieses fest, dass die Anfechtung des Mietvertrages durch die Beklagten wegen arglistiger Täuschung wirksam gewesen sei.

 

Mit ihrer Klage in 2021 forderte die Klägerin die Zahlung eines Betrages, der der Miete für den Zeitraum Oktober 2018 bis Juni 2019 entsprach. Die Klage wurde vom Landgericht abgewiesen. Das Oberlandesgericht erhob im Rahmen der von der Klägerin eingelegten Berufung Beweis zu der beklagtenseits behaupteten versuchten Schlüsselübergabe und wies sodann die Berufung zurück. Dagegen legte die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde ein, mit der sie die Zulassung der Revision begehrte.

 

Der BGH beschloss nach § 544 Abs. 9 ZPO die Revision zuzulassen und hob gleichzeitig die Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung des Rechtstreits an das OLG. Nach § 544 Abs. 9 ZPO kann der BGH verfahren, wenn das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers in rechtserheblicher Weise verletzt hat.

 

Diese Verletzung des rechtlichen Gehörs nahm der BGH an:

 

Das OLG habe zwar festgesellt, dass die Beklagten mir ihrer Rückgebeverpflichtung in Verzug gekommen seien, da sie die Schlüssel nicht zurückgegeben hätten. Auch könne ein verzugsbedingter kausaler Schaden der Klägerin dadurch entstanden sein, da sie als Zwischenmieterin weiter zur Zahlung der Miete an die Vermieterin verpflichtet gewesen sei. Aber die Klägerin habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme endgültig in einem Telefonat mit dem Zeugen F. die die angebotene Rückgabe der Schlüssel abgelehnt. Der Zeuge F. habe auch als vertretungsberechtigt für die Klägerin angesehen werden können (wenn er auch nicht Geschäftsführer gewesen sei), da er der maßgebliche Gesprächspartner auf Seiten der Klägerin gewesen sei, wie sich aus dem Vorprozess ergebe.

 

Art. 103 Abs. 1 GG gewähre den Parteien ein Recht darauf, dass sie Gelegenheit erhalten müssten, im Prozess zu Wort zu kommen und das nur die Tatsachen und Beweismittel verwertet werden. zu denen auch Stellung bezogen werden könne. Indem das OLG unter Bezugnahme auf den Vorprozess feststellte, der Zeuge F. sei maßgeblicher Ansprechpartner auf Seiten der Klägerin, ohne der Klägerin zuvor die Möglichkeit im anhängenden Verfahren zu geben, dazu Stellung zu nehmen, sei dieses Recht verletzt worden. So seien hier im Verfahren weder das im Vorprozess ergangene Urteil noch andere Schriftstücke aus diesem Verfahren vorgelegt worden, noch sei die Beiziehung der Akte des Vorprozesses angeregt oder beantragt worden. Selbst wenn es sich um eine gerichtskundige Tatsache gehandelt haben sollte, dürfe ein Gericht wegen Art. 103 Abs. 1 GG diese Tatsache nicht seiner Entscheidung zugrunde legen, ohne den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu gewähren (BVerfG, Beschluss vom 17.09.2020 - 2 BvR 1605/26 -).

 

 

Für die prozessuale Folge der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung ist neben der Verletzung des rechtlichen Gehörs auch erforderlich, dass das Urteil darauf beruht. Dies bejahte der BGH, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass bei Vermeidung dieses Verstoßes ein Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen Verzugs gem. §§ 280 Abs. 1 und 2m 286 BGB bejaht und der Klage damit stattgegeben worden wäre.

 

 

 

 Tenor

 

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird die Revision gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 15. März 2023 zugelassen.

Auf die Revision der Klägerin wird das vorgenannte Urteil aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Wert: 43.032 €

 

Gründe

 

I.

 

Die Klägerin macht gegen die Beklagten Zahlungsansprüche aus einem angefochtenen gewerblichen Mietvertrag geltend.

 

Die Beklagten mieteten von der Klägerin mit Vertrag vom 6. September 2018 Räumlichkeiten zum Betrieb eines Shisha-Cafés. Da beim Abschluss des Mietvertrags ein Zwangsversteigerungsverfahren über das streitgegenständliche Grundstück anhängig war, erklärten die Beklagten mit Anwaltsschreiben vom 10. September 2018 die Anfechtung des Mietvertrags mit der Begründung, ihnen sei dies nicht mitgeteilt worden. Durch ein rechtskräftig gewordenes Urteil des Landgerichts vom 20. April 2020 wurde festgestellt, dass die Anfechtung des Mietvertrags durch die Beklagten wegen arglistiger Täuschung wirksam ist. Mit anwaltlichem Schreiben vom 24. Oktober 2018 erklärte die Klägerin die fristlose Kündigung des Mietvertrags wegen Zahlungsverzugs und forderte die Beklagten zur Rückgabe der Schlüssel auf. Zu einer Schlüsselrückgabe kam es nicht.

 

Das Landgericht hat die auf Zahlung eines der Miete für den Zeitraum von Oktober 2018 bis Juni 2019 entsprechenden Betrags gerichtete Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat eine Beweisaufnahme zu den Vorgängen im Zusammenhang mit der von den Beklagten behaupteten versuchten Schlüsselrückgabe durchgeführt und schließlich die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Zurückweisung ihrer Berufung und die Nichtzulassung der Revision.

 

II.

 

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Zulassung der Revision und zur Aufhebung des angegriffenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

 

1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

 

Der Klägerin stehe kein Anspruch auf Ersatz eines Mietausfallschadens nach §§ 280, 286 BGB gegen die Beklagten zu. Diese seien zwar in Verzug mit ihrer Rückgabepflicht gekommen, weil sie die Schlüssel des Mietobjekts nicht zurückgegeben hätten. Es könne auch ein verzugsbedingter kausaler Schaden der Klägerin entstanden sein, weil sie als Zwischenmieterin verpflichtet gewesen sei, bis zur Rückgabe des Mietobjekts ihrerseits Miete an ihre Vermieterin zu zahlen. Allerdings habe die Klägerin die von den Beklagten angebotene Rückgabe der Schlüssel abgelehnt, wodurch der Verzug der Beklagten sofort wieder beendet worden sei. Die Beklagten hätten ihre Behauptung, der Zeuge F. habe bei einem Telefongespräch eine Rücknahme der Schlüssel endgültig abgelehnt, bewiesen. Die Beklagten hätten den Zeugen F. auch als vertretungsberechtigt für die Klägerin ansehen dürfen. Dieser sei zwar im Oktober 2018 nicht Geschäftsführer der Klägerin gewesen. Allerdings sei er - wie sich auch aus dem Vorprozess vor dem Landgericht ergebe - für die Beklagten der maßgebliche Ansprechpartner auf Seiten der Klägerin gewesen.

 

2. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Zu Recht beanstandet die Klägerin, dass das Berufungsgericht entscheidungserhebliche Feststellungen unter Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) getroffen hat.

 

a) Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Parteien ein Recht darauf, dass sie Gelegenheit erhalten, im Verfahren zu Wort zu kommen und dass das Gericht nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse verwerten darf, zu denen die Parteien Stellung nehmen konnten (vgl. BGH Beschluss vom 23. Mai 2012 - IV ZB 224/10 - NJW 2012, 2354 Rn. 7; BVerfG NJW 1994, 1210).

 

Dieses Recht hat das Berufungsgericht verletzt, indem es unter Bezugnahme auf den Vorprozess festgestellt hat, dass der Zeuge F. für die Beklagten der maßgebliche Ansprechpartner gewesen sei, ohne der Klägerin hierzu die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen. Die Nichtzulassungsbeschwerde weist insoweit zu Recht darauf hin, dass die Parteien im vorliegenden Rechtsstreit weder die in dem Vorprozess ergangenen Urteile noch andere Schriftstücke aus dem früheren Verfahren vorgelegt haben. Die Parteien haben auch nicht die Beiziehung der Akten des Vorprozesses angeregt oder beantragt. Ebenso wenig enthält die Gerichtsakte einen Vermerk, wonach das Berufungsgericht die Akten des Vorprozesses von Amts wegen beigezogen hat. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG läge selbst dann vor, wenn es eine „gerichtskundige“ Tatsache wäre, dass der Zeuge F. für die Beklagten der maßgebliche Ansprechpartner auf Seiten der Klägerin gewesen ist. Denn auch „gerichtskundige“ Tatsachen darf ein Gericht im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG seiner Entscheidung nicht zugrunde legen, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern (vgl. BVerfG NJW 2021, 50 Rn. 15).

 

b) Der vorliegende Verstoß des Berufungsgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist auch entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass es bei Vermeidung dieses Verstoßes einen Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen Verzugs gemäß §§ 280 Abs. 1 und 2, 286 BGB bejaht und somit der Klage stattgegeben hätte.

 

3. Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.

 

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird nach § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.