Prozessrecht


Rechtliches Gehör: Nichtvernehmung des (geladenen) Zeugen

BFH, Beschluss vom 04.04.2024 - V B 12/23 -

Kurze Inhaltsangabe:

 

Streitgegenständlich war der Vorsteuerabzug aus einer Rechnung der N-GmbH. Hier wurde der Zeuge D. vom Finanzgericht (FG) zum Beweisthema „Dienstleistungen der N-GmbH an den Kläger im Zeitraum Januar 2016 bis einschließlich September 2016“ zur mündlichen Verhandlung geladen, erschien aber nicht. Der Kläger beantragte hilfsweise, den Zeugen erneut zu laden und zum Beweisthema zu vernehmen. Das FG wies die Klage ab. Die Beschwerde des Klägers führte zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzgericht.

 

Es läge ein Verfahrensmangel iSv. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor. Da das FG habe den Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen; wolle es von dessen Vernehmung dann absehen, müsse es die beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen. Würde dieser Hinweis unterbleiben, sei der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Dies wurde vom BFH damit begründet, dass mit dem (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage entstünde, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürften mit der Folge, dass sie davon ausgehen dürften, dass klein Urteil vor vollständiger Ausführung des Beweisbeschlusses ergehen würde. Wolle das Gericht von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, müsse es daher vor Erlass des Urteils unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachte.  Dies gelte auch dann, wenn kein Beweisbeschluss ergingen sei, aber ein Zeuge gem. § 79 Abs. 1 FGO S. 2 Nr. 6 FGO zum Termin geladen worden sei (wie im vorliegenden Verfahren). 

 

Der Hinweis sei nur entbehrlich, wenn das Gericht aufgrund besonderer objektiver Umstände ausnahmsweise davon ausgehen durfte, dass sich die Beweisaufnahme auch aus Sicht der Beteiligten zweifelsfrei erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden Hinweises bedürfte.

 

Bei Annahme einer Gehörsverletzung ergäbe sich der Verfahrensmangel, auf dem das Urteil nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen müsse, direkt aus § 119 Nr. 3 FGO. Selbst würde man § 119 Nr. 3 FGO nicht anwenden, würde das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruhen, da dafür die vorliegend zu bejahende Möglichkeit ausreiche, dass die Entscheidung bei Erhebung des Beweises anders ausgefallen wäre (BFH, Beschluss vom 19.09.2014 - IX B 101/13 -). Dabei sei vom BFH berücksichtigt worden, dass das FG seine Entscheidung auch mit ernstlichen Zweifeln an der tatsächlichen Leistungserbringungen begründet habe und den Kläger als „feststellungsbelastet“ angesehen habe, weshalb bei einer Zeugenvernehmung eine anderweitige Beurteilung möglich gewesen sei.

 

 

Nicht zu entscheiden sei, ob darüber hinaus ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht vorlag.

 

Aus den Gründen:

 

Tenor

 

Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 24.01.2023 - 5 K 5166/20 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

 

Tatbestand

 

I.

 

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) betrieb im Streitjahr 2016 ein …-Unternehmen und machte den Vorsteuerabzug aus Rechnungen der N-GmbH geltend, den der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) im Anschluss an eine Umsatzsteuersonderprüfung durch Erlass eines geänderten Umsatzsteuerjahresbescheides versagte. Einen nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung gestellten Änderungsantrag lehnte das FA ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg.

 

Im finanzgerichtlichen Verfahren wurde der Zeuge D durch Beweisbeschluss vom 17.11.2022 zur mündlichen Verhandlung geladen, um zu dem Beweisthema "…-Dienstleistungen der N-GmbH an den Kläger im Zeitraum Januar 2016 bis einschließlich September 2016" auszusagen. Trotz ordnungsgemäßer Ladung erschien der Zeuge nicht. In der mündlichen Verhandlung beantragte der Kläger hilfsweise, den Zeugen D erneut zur Verhandlung zu laden und zu dem bereits benannten Beweisthema einzuvernehmen.

 

Aufgrund der mündlichen Verhandlung wies das Finanzgericht (FG) die Klage zum Streitpunkt des Vorsteuerabzugs aus Leistungen der N-GmbH ab. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, mit der er unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 19.09.2014 - IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214 rügt, dass das FG verfahrensfehlerhaft im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) vor Erlass des Urteils nicht mitgeteilt habe, dass es nicht mehr beabsichtige, dem Beweisbeschluss nachzukommen.

 

Entscheidungsgründe

 

II.

 

Die Beschwerde des Klägers, die entgegen der Auffassung des FA den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügt, ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO.

 

1. Der vom Kläger geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegt vor. Hat das FG einen Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen und will es von der Vernehmung des Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen. Unterbleibt dieser Hinweis, verletzt das FG den Anspruch auf rechtliches Gehör.

 

a) Nach ständiger BFH-Rechtsprechung entsteht durch einen (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht ergehen wird, bevor der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, muss es aber vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. BFH-Beschlüsse vom 19.09.2014 - IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 8; vom 11.10.2016 - III B 21/16, BFH/NV 2017, 315, Rz 11; vom 29.10.2015 - X B 55/15, BFH/NV 2016, 218, Rz 12 und vom 11.05.2015 - XI B 29/15, BFH/NV 2015, 1257, Rz 20). Dasselbe gilt, wenn kein Beweisbeschluss ergangen ist, sondern ein Zeuge gemäß § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 FGO zur mündlichen Verhandlung geladen wurde, wie es hier der Fall war. Auch in einem solchen Fall können die Beteiligten grundsätzlich davon ausgehen, dass das Gericht die Zeugenvernehmung als erforderlich erachtet und kein Urteil erlässt, bevor diese durchgeführt worden ist. Will das Gericht von der Vernehmung eines geladenen und beispielsweise zum Termin nicht erschienenen Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen; es sei denn, das Gericht kann aufgrund besonderer objektiver Umstände ausnahmsweise davon ausgehen, dass sich die Beweisaufnahme auch aus Sicht der Beteiligten zweifelsfrei erledigt hat, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfte. Unterbleibt ein danach gebotener Hinweis, verletzt das FG den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 96 Abs. 2 FGO und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (BFH-Beschlüsse vom 19.09.2014 - IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 9 und 11 sowie vom 11.10.2016 - III B 21/16, BFH/NV 2017, 315, Rz 9 und 12). Der Hinweis kann schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung mündlich erteilt werden. Ein mündlich erteilter Hinweis ist als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen (§ 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --ZPO--).

 

b) Das FG hat demnach dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO) verletzt, dass es die Vorentscheidung erlassen hat, ohne die Beteiligten zuvor unmissverständlich darauf hingewiesen zu haben, dass es nicht mehr beabsichtige, den Zeugen D zu vernehmen, nachdem das FG den Zeugen D unter Angabe des Beweisthemas zur mündlichen Verhandlung geladen hatte. Der Kläger durfte deshalb davon ausgehen, dass das FG vor der Vernehmung des Zeugen kein Urteil erlassen werde. Ein schriftlicher Hinweis findet sich nicht in den Akten; ein mündlich erteilter Hinweis ist dem Protokoll nicht zu entnehmen. Das Original des Sitzungsprotokolls erbringt insofern auch den negativen Beweis (§ 94 FGO i.V.m. § 165 ZPO), dass der Hinweis unterblieben ist.

 

Ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass der Zeuge D nicht mehr habe vernommen werden sollen, war auch nicht entbehrlich. Weder aus den Akten noch aus der Sitzungsniederschrift ist ersichtlich, dass es auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei gewesen sei, dass sich die zunächst beabsichtigte Vernehmung des Zeugen D erledigt habe. Dass dieser Zeuge zur mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht erschienen war, begründete für sich genommen keine Erledigung einer Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen (BFH-Beschluss vom 17.10.2013 - II B 31/13, BFH/NV 2014, 68, Rz 12).

 

c) Auf dem Verfahrensmangel kann das Urteil beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Bei Annahme einer Gehörsverletzung ergibt sich dies unmittelbar aus § 119 Nr. 3 FGO. Aber selbst, wenn § 119 Nr. 3 FGO nicht anwendbar wäre, ist das Beruhen zu bejahen, da hierfür die vorliegend zu bejahende Möglichkeit ausreicht, dass die Entscheidung bei Erhebung des Beweises anders ausgefallen wäre (vgl. BFH-Beschluss vom 19.09.2014 - IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 13). Dabei berücksichtigt der Senat, dass das FG seine Entscheidung auch mit ernstlichen Zweifeln an der tatsächlichen Leistungserbringung begründet und den Kläger dabei zudem als "feststellungsbelastet" angesehen hat (FG-Urteil S. 8, zweiter Absatz). Insoweit besteht zumindest die Möglichkeit, dass eine Beweiserhebung zum Beweisthema "…-Dienstleistungen der N-GmbH an den Kläger" zu einer anderen Beurteilung geführt hätte. Hat das FG somit --aufgrund der von ihm durch die Ladung geschaffenen Prozesssituation-- die von ihm als entscheidungserheblich angesehene Leistungserbringung verfahrensfehlerhaft verneint, kommt es auf die weiteren Überlegungen des FG zur Unzulässigkeit eines Zeugenbeweises zu "materiellen Vorsteuerabzugsvoraussetzungen" nicht an.

 

d) Der Kläger hat auch entgegen der Ansicht des FA nicht wirksam auf die Zeugenvernehmung des von ihm benannten Zeugen D verzichtet und kann sich deshalb auf den Verfahrensmangel berufen. Ein Rügeverzicht (entsprechend § 295 ZPO) kommt vorliegend bereits grundsätzlich nicht in Betracht, da die Beteiligten ohne einen ausdrücklichen Hinweis des Gerichts mit einem Wechsel in der erklärten Auffassung des Gerichts nicht zu rechnen brauchen (vgl. BFH-Beschluss vom 19.09.2014 - IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 14). Zudem hat der Kläger ausdrücklich in der mündlichen Verhandlung hilfsweise die Vernehmung des Zeugen D beantragt, wie sich aus dem Sitzungsprotokoll ergibt.

 

2. Ob darüber hinaus ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht vorliegen könnte (BFH-Beschlüsse vom 12.06.2012 - V B 128/11, BFH/NV 2012, 1804, Rz 9 und vom 24.07.2014 - V B 1/14, BFH/NV 2014, 1763, Rz 8 ff.), den das FA verneint, ist nicht zu entscheiden.

 

3. Der Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

 

 

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.