Prozessrecht


Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO und Erheblichkeit der Verletzung der Gewährung rechtlichen Gehörs durch Nichtgewährung

BGH, Beschluss vom 28.09.2021 - VI ZR 946/20 -

Die Klägerin machte Ansprüche wegen einer ärztlichen Fehlbehandlung gegen die Beklagte geltend. Die Klage wurde teilweise abgewiesen. Insoweit legte die Klägerin Berufung zum Kammergericht (KG) ein. Dieses erließ einen Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO, mit dem es die Klägerin auf die Absicht hinwies, die Berufung durch einstimmigen Beschluss als unbegründet zurückzuweisen, begründete dies und gewährte der Klägerin eine Frist zur Stellungnahme. Der Prozessbevollmächtigte beantragte während der laufenden Frist mit Schriftsatz vom 25.05.2020 (stillschweigende) Fristverlängerung mit der Begründung einer Arbeitsüberlastung auf den 06.07.2020. Dieser am 25.05.2020 bei dem KG eingegangene Schriftsatz wurde erst am 11.06.2020 dem Senat vorgelegt, der bereits mit Beschluss vom 10.06.2020 die Berufung zurückgewiesen hatte.

 

Auf die von der Klägerin eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH wurde der Beschluss des KG vom 10.06.2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das KG zurückverwiesen.

 

Das KG habe unter Verletzung des rechtlichen Gehörs den Fristverlängerungsantrag nicht zur Kenntnis genommen und die Berufung zurückgewiesen habe. Dabei sei unbeachtlich, dass die Geschäftsstelle des KG dem Senat den Schriftsatz erst verspätet vorgelegt habe, wie vom Senat der Klägerin mitgeteilt wurde.

 

Es könne für die Frage der Entscheidungserheblichkeit der Verletzung die Auffassung der Beschwerdeerwiderung auf sich beruhen, ob der erkennende Senat des KG die Fristverlängerung hätte gewähren müssen und dass in der im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragenen fiktiven Stellungnahme zum Hinweisbeschluss nichts vorgetragen worden sei,  was zur Zulassung der Berufung durch das KG relevant gewesen sei.

 

Eine gerichtliche Entscheidung beruhe auf der Verletzung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, falls nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie anders ausgefallen wäre, wenn das Vorbringen berücksichtigt worden wäre (BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 - 2 BvR 566/76 -). Davon sei hier auszugehen.

 

a)a Die nach § 522 Abs 2 S. 2 ZPO gesetzte Frist könne gem. § 224 Abs. 2 ZPO verlängert werden. Damit verwies das BVerfG zutreffend darauf, dass es für die Erheblichkeit der Verletzungshandlung iSv. Art- 103 GG nicht darauf ankommt, dass feststeht, dass die Frist verlängert wird, sondern nur darauf, dass die Möglichkeit bestanden habe. Wird mithin im Rahmen der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht, dass die Frist verlängert worden wäre, handelt es sich um eine nach § 224 Abs. 2 ZPO gegebene Möglichkeit, die die Erheblichkeit der Nichtbeachtung des Verlängerungsantrages begründet.

 

Das alleine wäre vorliegend aber noch nicht ausreichend. Denn wenn die Frist tatsächlich verlängert worden wäre, bedeutet dies nicht, dass die Berufung nicht doch mit Beschluss zurückgewiesen worden wäre. Vorliegend vertrat der BGH die in der Sache zutreffende Ansicht, dass auch nicht ausgeschlossen werden könne, dass mit der jetzt vorgetragenen, nach Angaben der Klägerin bei verlängerter Frist erfolgten Stellungnahme eine andere Entscheidung durch das KG erfolgt wäre. Nicht vorausgesetzt würde, so der BGH, dass die hypothetischen Ausführungen in dieser fiktiven Stellungnahme „zulassungsrelevant“ seien, vielmehr sei der berufungsgerichtliche Prüfungsmaßstab (§ 529 ZPO) zugrunde zu legen. Danach könne vorliegend eine andere Entscheidung des KG nicht ausgeschlossen werden.

 

 

Auch der Grundsatz der Subsidiarität greife vorliegend nicht. Danach müsse eine Partei die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu verhindern. Wer dies versäume könne keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG geltend machen. Dies entspräche auch § 295 ZPO, wonach eine Partei eine Gehörsverletzung dann nicht mehr geltend machen könne, wenn sie dies ihr nach dem Erkennen des Verstoßes verbliebenen Möglichkeiten zu einer Äußerung nicht nutze (BGH, Urteil vom 18.11.2020 - VIII ZR 123/20 -; BVerfG, Beschluss vom 21.01.2020 - VI ZR 410/17 -). Der BGH wies darauf hin, dass eine Frist nicht „stillschweigend“ verlängert werden könne, da eine Fristverlängerung ausdrücklich ausgesprochen und mitgeteilt werden müsse (BGH, Beschluss vom 26.10.1989 - IVb 135/88 -). Der BGH geht dabei ersichtlich davon aus, dass trotz der Beantragung einer „stillschweigend“ zu gewährenden Fristverlängerung ein ordnungsgemäßer Verlängerungsantrag gestellt wurde, und geht daher folgerichtig darauf ein, ob es zur Pflicht der Partei gehört, sich nach einer gewährten Verlängerung zu erkundigen. Diese Erkundigungspflicht habe hier aber die Klägerin bis zum Zurückweisungsbeschluss vom 10. 06.2020 nicht gehabt.

 

 

Tenor

 

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 20. Zivilsenats des Kammergerichts vom 10. Juni 2020 aufgehoben.

 

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Kammergericht zurückverwiesen.

 

Der Streitwert wird auf bis 80.000 € festgesetzt.

 

Gründe

 

I.

 

Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung in Anspruch. Das Landgericht hat die Beklagte teilweise verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Kammergericht gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, die eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt. In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist ausgeführt, was die Klägerin, wäre ihr die Gelegenheit zur Äußerung nicht abgeschnitten worden, noch Erhebliches ausgeführt hätte.

 

II.

 

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

 

1. Das Berufungsgericht hat die Klägerin durch Beschluss vom 20. April 2020 auf die Absicht hingewiesen, ihre Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen gegeben. Dieser Beschluss ist den Prozessvertretern der Klägerin am 27. April 2020 zugestellt worden. Diese baten mit Schreiben vom 25. Mai 2020, das am selben Tag an das Berufungsgericht übermittelt worden ist, um "stillschweigende Verlängerung der Frist zur Stellungnahme bis zum 06. Juli 2020", da die gesetzte Frist wegen Arbeitsüberlastung nicht eingehalten werden könne. Durch Beschluss vom 10. Juni 2020 hat das Berufungsgericht gemäß § 522 Abs. 2 ZPO die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Durch Verfügung vom 14. Juni 2020 hat das Berufungsgericht die Klägervertreter "vorsorglich darauf hingewiesen, dass der Antrag auf stillschweigende Fristverlängerung der Stellungnahmefrist zum Hinweisbeschluss vom 20.04.2020 am 25.05.2020 per Fax auf der Geschäftsstelle eingegangen ist, aber erst am 11.06.2020 und damit nach Erlass des Beschlusses vom 10.06.2020 vorgelegt worden ist."

 

2. Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist verletzt, weil das Berufungsgericht ihren Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme auf den Hinweis des Berufungsgerichts gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht zur Kenntnis genommen und die Berufung der Klägerin gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen hat. Dabei ist unerheblich, dass das am 25. Mai 2020 per Fax auf der Geschäftsstelle eingegangene Schreiben erst nach Erlass des Zurückweisungsbeschlusses am 10. Juni 2020 vorgelegt worden ist (vgl. dazu BVerfGE 62, 347 [juris Rn. 19]; BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020 - I ZR 214/19, juris Rn. 8; jeweils mwN).

 

3. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeerwiderung steht einer entscheidungserheblichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht entgegen, dass das Berufungsgericht die beantragte Fristverlängerung nicht hätte gewähren müssen und dass in den hypothetischen Ausführungen der Klägerin im Rahmen einer fiktiven Stellungnahme zum Hinweisbeschluss "nichts Zulassungsrelevantes dargelegt" worden ist.

 

a) Eine Entscheidung beruht auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG, falls nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie anders ausgefallen wäre, wenn das Vorbringen berücksichtigt worden wäre (vgl. BVerfGE 46, 185 [juris Rn. 9]; 89, 381 [juris Rn. 36]).

 

b) Davon ist hier auszugehen.

 

Zunächst kann die Frist zur Stellungnahme (§ 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO) gemäß § 224 Abs. 2 ZPO verlängert werden (vgl. Senat, Beschluss vom 15. Mai 2018 - VI ZR 287/17, NJW 2018, 3316 Rn. 9; Wöstmann, in: Saenger, ZPO 9. Aufl., § 522 Rn. 15).

 

Weiter darf nicht ausgeschlossen werden können, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung einer - dann innerhalb der verlängerten Frist abgegebenen - Stellungnahme zu seinem Hinweisbeschluss zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Januar 2019 - VI ZR 428/17, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020 - I ZR 214/19, juris Rn. 9 f.). Dies setzt nicht voraus, dass die hypothetischen Ausführungen in einer fiktiven Stellungnahme "zulassungsrelevant" sind. Vielmehr ist der berufungsgerichtliche Prüfungsmaßstab (§ 529 ZPO) zugrunde zu legen.

 

Danach kann eine andere Entscheidung des Berufungsgerichts hier jedenfalls nicht ausgeschlossen werden.

 

4. Einem durchgreifenden Verstoß steht schließlich nicht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen.

 

a) Nach diesem Grundsatz muss ein Beteiligter die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann nicht geltend machen, wer es versäumt hat, zuvor die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten auszuschöpfen, um sich das rechtliche Gehör zu verschaffen. Diese Würdigung entspricht dem in § 295 ZPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken, nach dessen Inhalt eine Partei eine Gehörsverletzung nicht mehr rügen kann, wenn sie die ihr nach Erkennen des Verstoßes verbliebene Möglichkeit zu einer Äußerung nicht genutzt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Januar 2020 - VI ZR 410/17, NJW-RR 2020, 312 unter 1.a.; BGH, Urteil vom 18. November 2020 - VIII ZR 123/20, NJW-RR 2021, 76 Rn. 67; jeweils mwN).

 

 

b) Zwar durften die Prozessvertreter der Klägerin nicht erwarten, dass die Frist - wie von ihnen beantragt - "stillschweigend" verlängert wird. Denn eine Fristverlängerung muss ausdrücklich ausgesprochen und mitgeteilt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1989 - IVb ZB 135/88, NJW-RR 1990, 67 [juris Rn. 10]). Allerdings hatten die Klägervertreter hier jedenfalls vor Zurückweisung der Berufung durch Beschluss vom 10. Juni 2020 keinen Anlass, sich zu erkundigen, ob und bis wann das Berufungsgericht die Frist zur Stellungnahme verlängert hat oder verlängern wird (siehe weiter BGH, Beschluss vom 22. Juni 2021 - VIII ZB 56/20, juris Rn. 23, 36 zum Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist).