Feststellung des Schadensersatzanspruchs für künftige
Schäden auch ohne Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts ?
OLG München, Urteil vom
21.02.2020 - 10 U 2345/19 -
Kurze Inhaltsangabe mit Anmerkung:
Die grundsätzliche Schadensersatzpflicht der Beklagten stand fest. Der Antrag des Klägers auf Feststellung, dass der Kläger ihm auch künftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen
habe, wurde vom Landgericht abgewiesen. Dabei stütze sich das Landgericht auf ein eingeholtes Sachverständigengutachten, wonach ein unfallbedingter Dauerschaden mit funktionellen Auswirkungen
nicht eingetreten sei und ein unfallbedingter Zukunftsschaden mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten sei. Die Berufung war erfolgreich.
Ausreichend sei (wie der BGH in seinem Urteil vom 17.10.2017 – VI ZR 423/16 – festgehalten habe), dass ein haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben sei, der zu möglichen künftigen Schäden
führen könne. Eine „gewisse Wahrscheinlichkeit“ sei danach als zusätzliches Begründetheitselement jedenfalls in den Fällen nicht erforderlich, in denen die Verletzung eines Rechtsguts iSv. § 823
Abs. 1 BGB bzw. § 7 Abs. 1 StVG und darüber hinaus ein daraus resultierender Vermögensschaden bereits eingetreten sei. Es gäbe nach der Rechtsprechung des BGH aaO. keinen Grund, die
Feststellung für weitere (künftige) Schäden von der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts abhängig zu mache. Materiellrechtlich käme der Anspruch ohnehin nur zum Tragen, wenn der Schaden eintreten
würde, weshalb es unbedenklich sei, bereits hetzt für diesen Fall die Ersatzpflicht festzustellen. Es käme auch nicht darauf an, ob es wahrscheinlich ist, dass der Geschädigte im Falle eines
Eintritts dieses weiteren Schadens einen Anspruch auf eine kongruente Sozialleistung habe.
Anmerkung: Von Relevanz ist diese Entscheidung für den Fall, dass der Schaden nach Ablauf der Verjährungsfrist eintritt und der Geschädigte keinen Feststellungsantrag gestellt
hatte.
Aus den Gründen:
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers
vom 10.05.2019 wird das Endurteil des LG Landshut vom 05.04.2019 (Az. 12 O 779/18) in Ziff. I S. 2 und II abgeändert und wie folgt neu gefasst:
I. Es wird festgestellt, dass
die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche künftigen unfallbedingten materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 11.07.2015 in … O. zu ersetzen, soweit die Ansprüche
nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits
(erster Instanz) werden gegeneinander aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten
des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig
vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Gründe
A.
Von der Darstellung der
tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B.
Die statthafte sowie form- und
fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
I. Das Landgericht hat zu
Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem streitgegenständlichen Unfall vom
11.07.2015 zu ersetzen, verneint.
Dem Grunde nach ist aufgrund der
überzeugenden Ausführungen des Erstgerichts, die in der Berufung nicht angegriffen wurden, davon auszugehen, dass die Beklagte für die unfallbedingten Schäden des Klägers in vollem Umfang
haftet.
Der Feststellungsantrag des
Klägers ist entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten (und des Erstgerichts) begründet.
Zwar hat der gerichtliche
Sachverständige Dr. M. in seinem Gutachten vom 30.10.2018 ausgeführt, dass ein unfallbedingter Dauerschaden mit funktionellen Auswirkungen nicht eingetreten sei. Es seien unfallbedingte
Zukunftsschäden mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Eine unfallbedingte Arthrose im Bereich der Schulter sei nicht zu erwarten. Eine Gelenkverletzung an der Schulter,
welche als Risikofaktor für das Auftreten einer posttraumatischen Arthrose gelten könnte, sei unfallbedingt nicht verursacht worden. Auch seien keine Fehlstellungen verursacht worden, von denen
zu erwarten wäre, dass sie benachbarte Gelenke im Sinne einer posttraumatischen Arthrose verändern könnten (S. 15/16 des Gutachtens vom 20.10.2018 = Bl. 120f. d.A.).
Auf der Grundlage der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Feststellungsklage dennoch auch bei dieser Sachlage zulässig und begründet.
Ausgehend davon, dass nach dem
Sachverständigengutachten hier die bloße Möglichkeit, dass es zum Eintritt künftiger Schäden aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall kommt, nicht verneint werden kann, ist die Zulässigkeit
der Feststellungsklage vorliegend zu bejahen. Anders als noch in der Hinweisverfügung des Senats vom 08.06.2017 im Verfahren 10 U 952/17 ausgeführt, hat der Bundesgerichtshof nunmehr
mit Urteil vom 17.10.2017 (VersR 2018, 120) klargestellt, dass jedenfalls in Fällen, in denen die Verletzung eines durch § 823 Abs. 1 BGB oder § 7 Abs. 1
StVG geschützten Rechtsguts und darüber hinaus ein daraus resultierender Vermögensschaden bereits eingetreten sind, wie dies hier jeweils zu bejahen ist, die Begründetheit einer Klage, die
auf die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere, künftige Schäden gerichtet ist, nicht von der Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser Schäden abhängig ist (Leitsatz 4 und Rn. 49 bei
juris):
„Begründet ist ein
Feststellungsantrag, wenn die sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs vorliegen, also ein haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben ist, der zu möglichen
künftigen Schäden führen kann. Ob darüber hinaus im Rahmen der Begründetheit eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu verlangen ist, hat der Senat bislang offen gelassen
(Senatsurteile vom 9. Januar 2007 - VI ZR 133/06, VersR 2007, 708, 709 mwN; vom 16. Januar 2001 - VI ZR 381/99, NJW 2001, 1431, 1432). Der Senat hat aber bereits Zweifel
an der Erforderlichkeit eines solchen zusätzlichen Begründetheitselements jedenfalls für den Fall geäußert, dass Gegenstand der Feststellungsklage ein befürchteter Folgeschaden aus der Verletzung
eines deliktsrechtlich geschützten absoluten Rechtsguts ist (Senatsurteil vom 16. Januar 2001 - VI ZR 381/99, NJW 2001, 1431, 1432; vgl. auch Senatsurteil vom 15. Juli 1997 - VI ZR
184/96, VersR 1997, 1508, 1509 für mögliche Spätfolgen nach schweren Verletzungen). Jedenfalls in Fällen, in denen die Verletzung eines (durch § 823 Abs. 1 BGB oder
durch § 7 Abs. 1 StVG geschützten) Rechtsguts und darüber hinaus ein daraus resultierender Vermögensschaden bereits eingetreten sind, gibt es keinen Grund, die Feststellung
der Ersatzpflicht für weitere, künftige Schäden von der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts abhängig zu machen. Materiell-rechtlich wird es den Anspruch auf Ersatz dieser Schäden ohnehin nicht
geben, solange diese nicht eingetreten sind; von der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts hängt die Entstehung des Anspruchs also nicht ab. Die Leistungspflicht soll bei künftige Schäden
erfassenden Feststellungsklagen deshalb nur für den Fall festgestellt werden, dass die befürchtete Schadensfolge wirklich eintritt (vgl. von Gerlach, VersR 2000, 525, 532). Da
dementsprechend der Feststellungsausspruch nichts darüber aussagt, ob ein künftiger Schaden eintreten wird, ist es unbedenklich, die Ersatzpflicht des Schädigers für den Fall, dass der Schaden
eintreten sollte, bereits jetzt festzustellen (ähnlich MüKoZPO/Becker-Eberhard, 5. Aufl., § 256 Rn. 32). Nach diesen Grundsätzen kommt es für die Begründetheit des vorliegenden
Feststellungsantrags nicht darauf an, ob der Eintritt eines verbleibenden Rentenkürzungsschadens, für den die Klägerin keine kongruenten Sozialleistungen beanspruchen kann, wahrscheinlich ist.
Die Klägerin ist in einem durch § 7 Abs. 1 StVG geschützten Rechtsgut verletzt worden, woraus schon gegenwärtig ein Verdienstausfallschaden resultiert, für den die Beklagte
teilweise einzustehen hat.“
Soweit die Beklagte deshalb
meint, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass kein Zukunftsschaden entstehen wird, stünde der Begründetheit des klägerischen Feststellungsbegehrens entgegen, ist dies mit dem
Bundesgerichtshof abzulehnen.
II. Die Kostenentscheidung
beruht auf §§ 92 I 1 Fall 2, 91 I ZPO.
III. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
IV. Die Revision war nicht
zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall
betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
Anhang:
Leitsätze der Entscheidung des BGH vom vom 17.10.2017 - VI ZR 423/16 -:
1. Der durch einen
Verkehrsunfall Geschädigte ist einem angehörigen Schädiger, mit dem er in häuslicher Gemeinschaft lebt, und dessen Haftpflichtversicherer gegenüber grundsätzlich auch insoweit aktivlegitimiert,
als er Schadensersatzleistungen verlangt, die mit den ihm vom Sozialversicherungsträger zu erbringenden Sozialleistungen kongruent sind. Ein Verlust der Aktivlegitimation durch Übergang seiner
diesbezüglichen Forderung auf den Sozialversicherungsträger gemäß § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist aufgrund des Familienprivilegs des § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X
ausgeschlossen (Senatsurteil vom 28. November 2000, VI ZR 352/99, BGHZ 146, 108). Eine Übertragung des Regelungsinhalts des § 86 Abs. 3 VVG auf § 116
Abs. 6 SGB X im Wege der Auslegung oder Analogie scheidet aus.
2. Haftet aufgrund des
Verkehrsunfalls neben dem angehörigen Schädiger ein Fremdschädiger für denselben kongruenten Schaden, so entstehen infolge der Regelungen des § 116 Abs. 1 und Abs. 6 SGB X
verschiedene Schuldverhältnisse, auf die die Regelungen der §§ 422 Abs. 1 Satz 1, 426, 430 BGB entsprechend anwendbar sind.
3. In dieser besonderen
Fallgestaltung ist der Anspruch des Geschädigten gegen den angehörigen Schädiger bzw. dessen Versicherer gemäß § 242 BGB auf das beschränkt, was er bei einem Erhalt der Leistungen
von Seiten des angehörigen Schädigers analog § 430 BGB im Verhältnis zum Sozialversicherungsträger behalten dürfte.
4. Jedenfalls in Fällen, in
denen die Verletzung eines durch § 823 Abs. 1 BGB oder § 7 Abs. 1 StVG geschützten Rechtsguts und darüber hinaus ein daraus resultierender Vermögensschaden
bereits eingetreten sind, ist die Begründetheit einer Klage, die auf die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere, künftige Schäden gerichtet ist, nicht von der Wahrscheinlichkeit des Eintritts
dieser Schäden abhängig.