Abwägungsgebot
zwischen zulässiger Meinungsäußerung und unzulässiger Tatsachenbehauptung
BVerfG, Beschluss vom 16.03.2017 - 1 BvR
3085/15
Kurze Inhaltsangabe:
In dem Verfahren war streitgegenständlich, ob Ausführungen der Beschwerdeführerin (Verlegerin der taz) einen Unterlassungsanspruch des Kläger des Ausgangsverfahrens (einem Journalisten der
BILD-Zeitung) rechtfertigen können. Dieser wurde in Bezug auf folgende Darstellung durch das Hans. OLG Hamburg (letztinstanzlich) stattgegeben: „Ob [der
Kläger] die Wahrheit sagt oder lügt, ob er vom Wulff-M.-Sumpf wusste (oder womöglich
selbst darin schwamm), ist kaum herauszufinden. In der großen Affäre um den Bundespräsidenten bleibt diese Frage allenfalls eine Randnotiz. [Der
Kläger] muss, anders als der Bundespräsident, kaum fürchten, dass seine Verstrickungen
enthüllt und seine Abhängigkeiten öffentlich werden. Er ist Journalist, nicht Politiker. Das ist, in diesem Fall, sein Glück.“
Das BVerfG sah darin eine Verletzung der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und hob das Urteil des OLG auf unter gleichzeitiger Zurückverweisung zur erneuten Entscheidung.
Vom Grundsatz hielt das BVerfG fest, dass Tatsachenbehauptungen durch objektive Beziehungen zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit geprägt würden und der Überprüfung durch Beweismittel
zugänglich seien, demgegenüber eine Meinungsäußerung durch „Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens“ geprägt sei. Für die Feststellung des Schwerpunktes der Äußerung käme es entscheidend
auf den Gesamtkontext der fraglichen Äußerung an.
Das OLG habe verfassungsrechtlich nicht vertretbar eine Äußerung der Beschwerdeführerin als Tatsache eingeordnet und damit vorliegend die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung zur Anwendung
gebracht, obwohl es zunächst selbst das Vorliegen einer Meinungsäußerung mit der Begründung verneint habe, die Beschwerdeführerin habe eine Bewertung vorgenommen. Eine Bewertung sei aber eine
Meinungsäußerung, da sie keinem Beweis zugänglich sei. Deshalb sei die Ausführung unschlüssig. Im Übrigen habe das OLG verkannt, dass die kritische Bewertung der Äußerung des Klägers und
die auch nur als bloße Vermutung ausgewiesenen Zweifel an der Wahrheit des Klägers geprägt wären von Elementen der Stellungnahme und des Dafürhaltens und auch aus der Nähe des Klägers zu den in
Frage stehenden Ereignissen ein Werturteil darstellen würden.
Da nicht auszuschließen sei, dass das OLG bei einer erneuten Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommt, sei der Rechtstreit unter Aufhebung des Urteils zurückzuverweisen.
Aus den Gründen:
Tenor
1. Das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 22. Juli 2014 - 7 U 105/12 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des
Grundgesetzes.
2. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
4. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin die ihr im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
5. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine zivilgerichtliche Unterlassungsverurteilung.
1. Die Beschwerdeführerin verlegt die Tageszeitung "taz" und betreibt die Internetseite www.taz.de. Der Kläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kläger) ist Journalist bei der
BILD-Zeitung und Autor mehrerer Bücher, die teilweise in Zusammenarbeit mit Politikern entstanden sind, wie auch des Buchs des ehemaligen Ministerpräsidenten Wulff "Besser die
Wahrheit", das im Jahr 2007 in Form eines Interviewbuchs erschien. Der Kläger hatte mit dem Verlag einen Autorenvertrag geschlossen. Die Rechnung für eine bereits geschaltete
Werbekampagne reichte der Verlag an einen bekannten Unternehmer weiter, der im Februar 2008 aus seinen Privatmitteln einen Betrag von 42.700 € auf diese Rechnung zahlte.
Die BILD-Zeitung berichtete am Abend des 19. Dezember 2011 über diesen Vorgang unter www.bild.de, als der damalige Bundespräsident (zunächst) wegen eines privaten Darlehens und
eines diesbezüglichen Anrufs beim damaligen Chefredakteur von BILD media unter Beschuss geraten war. Sie veröffentlichte in diesem Zusammenhang ein Zitat des Klägers vom Vortag,
dass er "erst heute" von der Weitergabe der Rechnungen erfahren habe. Am 20. Dezember 2011 erschien auf www.bild.de ein Beitrag des Klägers, in dem er die Anzeigenfinanzierung
kritisierte. In der Überschrift wurde er namentlich genannt und mitgeteilt, dass er die Anzeigen für problematisch halte.
Dies nahm die Beschwerdeführerin zum Anlass, am 21. Dezember 2011 in der Printausgabe die streitgegenständliche Berichterstattung zu veröffentlichen.
Bundespräsident unter Beschuss
Abseits des Geheuls
Wulff wankt. Muss er zurücktreten? Gründe dafür gibt es, jeden Tag ein paar mehr. Aber Journalisten sollen in dieser Frage nicht der Maßstab sein. Ein Plädoyer.(…)
Auch Christian Wulff steht zu Christian Wulff. (…) Anders die Medien, viele haben ihr Urteil über den Bundespräsidenten gefällt. Zu beobachten ist ein bemerkenswerter
Schulterschluss vom Boulevard zum Feuilleton, ein seltenes Medienereignis. Das letzte Mal zu bestaunen, als Joachim Gauck ins Schloss Bellevue einziehen sollte. Es hat nicht
geklappt.
Sollen Schlagzeilen Wulff stürzen?
(…) Die Bild collagiert eine Auswahl eindeutiger Überschriften ("Wulffs heikle Urlaubs-Liste", "Wulff wartet auf Weihnachtswunder", "Ein Präsident auf Abruf") und fragt, scheinbar
besorgt, ernsthaft scheinheilig: "Wie lange hält das Amt solche Schlagzeilen aus?"
Eine interessante Frage, die viel über ihren Urheber im Speziellen und die Debatte im Allgemeinen aussagt. (…) Interessant ist diese Frage vor allem dann, wenn sie die Bild
stellt. Das Boulevardblatt ist in der Causa Wulff nicht Beobachter. Sondern Akteur. Bild-Autor (…) [= der Kläger] schrieb das umstrittene Wulff-Buch "Besser die
Wahrheit", für das der Millionär M. Werbeanzeigen im Wert von rund 50.000 Euro schaltete. In der heutigen Ausgabe des Boulevardblattes behauptete [der Kläger], er habe
von nichts gewusst: "Ich habe erst heute erfahren, dass die Rechnung vom Verlag an Herrn M. weitergegeben wurde".
Ob [der Kläger] die Wahrheit sagt oder lügt, ob er vom Wulff-M.-Sumpf wusste (oder womöglich selbst darin schwamm), ist kaum herauszufinden. In der großen Affäre um den
Bundespräsidenten bleibt diese Frage allenfalls eine Randnotiz. [Der Kläger] muss, anders als der Bundespräsident, kaum fürchten, dass seine Verstrickungen enthüllt und
seine Abhängigkeiten öffentlich werden. Er ist Journalist, nicht Politiker. Das ist, in diesem Fall, sein Glück.
Der Kläger begehrte von der Beschwerdeführerin Unterlassung des letzten Absatzes. Hilfsweise beantragte er die Beschwerdeführerin zur Unterlassung zu verurteilen, durch die
Passage den Verdacht zu erwecken, dass der Kläger bereits vor dem 19. Dezember 2011 gewusst habe, wer die Werbeanzeigen für das Buch "Besser die Wahrheit" finanziert habe.
2. Nachdem das Landgericht die Klage abgewiesen hatte, änderte das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil ab und gab dem Hilfsantrag statt. Die angegriffene
Berichterstattung verletze den Kläger rechtswidrig in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Es handle es sich um eine Verdachtsberichterstattung. Ein unbefangener
Durchschnittsleser werde die Passage nicht als Meinungsäußerung auffassen, sondern dergestalt, dass die Beschwerdeführerin den Vorgang um die Kenntnisnahme des Klägers von der
Bezahlung der Anzeigen bewerte. Die Beschwerdeführerin stelle nicht die Behauptung auf, dass der Kläger lüge, sie verbreite aber einen entsprechenden Verdacht. Maßgebliches
Gewicht komme dabei dem Satz "Das ist, in diesem Fall, sein Glück." zu. Dieses Glück bestehe nach dem Leserverständnis dahin, dass auf Grund der ausgebliebenen Nachforschungen die
Verstrickungen des Klägers nicht zutage treten würden. Damit gehe im Gesamtkontext der Verdacht einher, der Kläger habe gelogen. Im vorliegenden Rechtsstreit habe die Vernehmung
des zuständigen Verlagsmitarbeiters die entsprechende Behauptung der Beschwerdeführerin nicht bestätigt. Die angegriffene Berichterstattung verletze das allgemeine
Persönlichkeitsrecht des Klägers, setze sie ihn doch dem Verdacht aus, gelogen zu haben. Für die Äußerung dieses Verdachtes fehle es aber am Mindestbestand an Beweistatsachen, so
dass sie unzulässig sei.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts und rügt insbesondere die Verletzung
ihrer Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
4. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, die Präsidentin des Bundesgerichtshofs und der Kläger erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Von einer Stellungnahme wurde
abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts richtet und mit
ihr eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gerügt wird. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG).
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen im Bereich des Äußerungsrechts und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bereits entschieden (vgl. BVerfGE 85, 1; 99,
185; 114, 339). Danach ist die Verfassungsbeschwerde im Umfang der Annahme zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.
2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
a) Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte. Bei ihrer Entscheidung haben sie jedoch dem Einfluss der
Grundrechte auf die Vorschriften des Zivilrechts Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>; 85, 1 <13>; stRspr). Handelt es sich um Gesetze, die die
Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung
auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>). Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat,
liegt erst vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines
Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <93>; 42, 143 <149>; 85, 1 <13>). Handelt es sich um Eingriffe in die
Meinungsfreiheit, kann dies allerdings schon bei unzutreffender Erfassung oder Würdigung einer Äußerung der Fall sein (BVerfGE 85, 1 <13>). Bedeutung und Tragweite der
Meinungsfreiheit sind ferner verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik einstufen mit der Folge, dass sie
dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind (BVerfGE 85, 1
<14> m.w.N).
b) Während Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit geprägt werden und der Überprüfung mit Mitteln des Beweises zugänglich
sind (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>; 94, 1 <8>), handelt es sich bei einer Meinung um eine Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt ist
(vgl. BVerfGE 7, 198 <210>; 61, 1 <8>; 90, 241 <247>; 124, 300 <320>). Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Tatsachenbehauptung oder
als Werturteil anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtkontext der fraglichen Äußerung an (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten
Senats vom 4. August 2016 - 1 BvR 2619/13 -, juris, Rn.13).
c) Die angegriffene Entscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Das Oberlandesgericht geht in verfassungsrechtlich nicht tragbarer Weise davon aus, dass
die Äußerung der Beschwerdeführerin als Tatsache einzuordnen ist und mithin die Grundsätze zur Verdachtsberichterstattung zur Anwendung kommen. Dass Oberlandesgericht verneint
zunächst das Vorliegen einer Meinungsäußerung mit der Begründung, dass die Beschwerdeführerin eine Bewertung vornehme. Diese Begründung ist nicht schlüssig, da eine Bewertung
gerade keine dem Beweis zugängliche Tatsachenbehauptung ist. Das Oberlandesgericht nimmt dennoch eine Tatsachenbehauptung an und wendet die Grundsätze zur
Verdachtsberichterstattung an, die bei Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist, zur Anwendung kommen (vgl. BVerfGE 114, 339 <353>; BVerfG, Beschluss der
1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2009 - 1 BvR 134/03 -, NJW-RR 2010, S. 470 <471>; BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 - VI ZR 211/12 -, NJW 2014, S. 2029
<2932>). Das Oberlandesgericht verkennt hierbei, dass die kritische Bewertung der Äußerung des Klägers und die als bloße Vermutung ausgewiesenen Zweifel an der Wahrheit
dieser Aussage von Elementen der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt sind und, abgeleitet aus den konkreten Umständen der Nähe des Klägers zu den in Frage stehenden
Ereignissen, damit ein Werturteil darstellen.
d) Bereits die unzutreffende Einordnung der Äußerung als Tatsachenbehauptung verletzt die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Diese wirkt sich
auch auf die vorgenommene Abwägung aus, bei der sich das Oberlandesgericht auf die Feststellung beschränkt, dass es an einem Mindestbestand an Beweistatsachen fehlt.
3. Die Entscheidung beruht auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht bei erneuter Befassung zu einer anderen
Entscheidung in der Sache kommen wird. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung ist der Gesamtzusammenhang der streitgegenständlichen Äußerung zu beachten, die in eine Kritik am
medialen Umgang mit dem Bundespräsidenten eingebettet war und an die Tätigkeit des Klägers als Autor des Buchs anknüpft. In die Abwägung wird weiter einzustellen sein, dass sich
der Kläger mit seinem Artikel selbst in die Öffentlichkeit begeben hat.
4. Soweit die Beschwerdeführerin das Urteil des Landgerichts angreift und die Verletzung weiterer Grundrechte rügt, wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung
angenommen. Von einer Begründung wird insoweit gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
6. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl.
BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).