Das willkürliche Recht ?

Gedanken zu § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO

von RA Ralf Niehus

 

 

Die Norm des § 529 Abs. 1 ZPO lautet:

 

"Das Berufungsgericht hat seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen:

1. die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten;

2. neue Tatsachen, soweit deren Berücksichtigung zulässig ist."

 

Die Formulierung ist an sich eindeutig. Entscheidend ist der vom Erstgericht festgestellte Tatbestand. Er ist so festgestellt, wie er sich aus den Entscheidungsgründen des Urteils ergibt. Es handelt sich hier um die Wiedergabe des tatsächlichen mündlichen (und damit in der Folge auch schriftsätzlichen) Vorbringens der Parteien in Gestalt eines Sach- und Streitstandes (Ball in Musielak, ZPO 5. Aufl. § 529 Rdz. 2).  Das hat zur Konsequenz, dass selbst dann die vom Erstgericht seiner Entscheidung als festgestellt zugrunde gelegten Tatsachen bindend sind, wenn die Feststellung falsch sein sollte. Dies nähert nach dem Willen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit dem Reformgesetz zum 01.01.2002 den Prüfungsumfang des Berufungsgerichts an der der Revisionsinstanz an und betont damit die gewandelte Funktion der Berufung (Ball aaO. Rdz. 1). War es zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung möglich (und wurde dies aus taktischer Überlegung auch häufig praktiziert), Tatsachenvortrag in der 1. Instanz zurückzuhalten und bei Bedarf erst im Berufungsrechtszug einzubringen, ist dem über § 531 ZPO ein Riegel vorgeschoben worden: Grundsätzlich ist neuer Vortrag im Berufungsverfahren ausgeschlossen. Damit kann aber auch eine fehlerhafte Tatsachenfeststellung des Erstgerichts nicht mehr quasi über einen als "neu" zu bewertenden Vortrag revidiert werden.

 

Rechtspolitisch könnte man gegen diese dogmatische Regelung des § 529 ZPO einwenden, dass eine fehlerhafte Aufnahme des Prozessstoffes durch den erkennenden Richter damit zu Lasten der betroffenen Partei geht und dies nicht mit dem Rechtsstaatssystem vereinbar wäre. Dies ist allerdings nicht der Fall. Gefragt ist hier die Sorgfalt der Partei respektive deren anwaltlichen Beistandes. Nach Zustellung des Urteils ist dies von den Parteien bzw. ihren Prozessbevollmächtigten gerade auf die inhaltliche Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen zu prüfen. Kommen sie zu dem Ergebnis, dass der Tatsachenvortrag falsch  - gar zu ihren Lasten falsch -  festgestellt wurde, besteht die Möglichkeit einen Tatbestandsberichtigungsantrag binnen zwei Wochen nach Zustellung des Urteils zu stellen, § 320 ZPO. Über diesen hat das Erstgericht  - auf Antrag nach mündlicher Verhandlung -  zu entscheiden. Eine Anfechtung des Beschlusses ist nicht möglich, § 520 Abs. 3 ZPO. Ändert das Erstgericht die fehlerhafte Tatsachenfeststellung nicht, so führt dies nicht dazu, dass nunmehr das Berufungsgericht an die fehlerhafte Tatsachenfeststellung gebunden wäre. § 520 Abs. 1 Nr. 1 ZPO sieht gerade vor, dass bei "Zweifeln" die Bindungswirkung nicht eintritt. Zweifel sind aber zu dokumentieren. Sie werden hier in dem Beschluss des Erstgerichts dokumentiert, in dem dieses darlegen muss, weshalb es trotz der Einwendungen der beschwerdeführenden Partei bei seiner (objektiv unrichtigen) Auffassung verbleibt. Hier nun besteht im Berufungsverfahren die Möglichkeit, unter Bezugnahme auf den Beschluss die "Zweifel" zu belegen. Die Bindungswirkung der Tatsachenfeststellung des Erstgerichts ist damit erschüttert.

 

Allerdings wird häufig von den Prozessbeteiligten (auch Anwälten) dieser Umstand übersehen. Das Urteil wird nicht gründlich durchgearbeitet, ein Tatbestandsberichtigungsantrag nach § 320 ZPO nicht gestellt. Dies kann aufgrund der Regelung des § 529 ZPO dazu führen, dass alleine wegen dieses Unterlassens oder Vergessens ein Verfahren für eine Partei im Berufungsrechtszug negativ verläuft. Zwar wird in diesen Fällen häufig argumentiert, die Zweifel würden sich aus den Schriftsätzen erschließen, doch kann eine derartige Argumentation idR. nicht verfangen. Grundsätzlich gilt der mündliche Vortrag, der durch Schriftsätze  - auf die (meist stillschweigend) Bezug genommen wird -  für die mündliche Verhandlung vorbereitet wird. In der mündlichen Verhandlung kann aber der Vortrag geändert werden. Der Umstand, dass dies nicht im Verhandlungsprotokoll niedergelegt ist, ist nicht entscheidend. Nach § 510a ZPO sind nur bestimmte Umstände im Protokoll zwingend festzuhalten, im übrigen nur Umstände, die der erkennende Richter für erheblich hält. Daraus lässt sich nicht herleiten, dass die Änderung eines Vortrages gegenüber dem bisherigen schriftsätzlichen Vortrag zwingend im Protokoll seinen Niederschlag finden muss.

 

Allerdings findet man immer wieder Berufungsgerichte, der um der materiellen Gerechtigkeit willen die Norm des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht beachten, und aufgrund der erstinstanzlich von den Parteien tatsächlich schriftsätzlich vorgetragenen Umstände von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts abweichen, diese  - wie es § 529 Abs. 1 ZPO vom Grundsatz fordert -  nicht ihrer Entscheidung zugrunde legen. Dieses Absehen von § 529 Abs. 1 Ziffer 1 ZPO wurde vom BGH gebilligt. In seiner Entscheidung vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - (in NJW 2005, 1583ff) hat er festgehalten, dass im Revisionsrechtszug nicht zu überprüfen ist, ob das Berufungsgericht im Falle einer erneuten Tatsachenfeststellung die Voraussetzungen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO beachtet hat. Damit lehnte es insoweit eine auf die Verletzung formellen Rechts gestützte Revision ab.

 

Diese Entscheidung des BGH mag zwar der betroffenen Partei zu Gute gekommen sein, der dadurch (wohl) "materielle Gerechtigkeit" widerfuhr. Doch was ist mit der Partei, bei der das Berufungsgericht auf § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO verweist ? Wie kann dieser von der formellen Bindungswirkung des Tatbestandes des erstinstanzlichen Urteils negativ betroffenen Partei erklärt werden, sie habe "Pech" mit dem Berufungsgericht gehabt ?

Sieht man von der Möglichkeit ab, dass bei anwaltlicher Vertretung eine Pflichtverletzung des Anwalts (wegen Unterlassens eines Antrages nach § 320 ZPO) vorliegt, die ihn schadensersatzpflichtig macht (wobei hier der betroffene Mandant neuerlich hoffen muss, dass nun alles formell richtig "läuft"), ist das vom BGH gefundene Ergebnis auch aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten heraus nicht zu vertreten. Es handelt sich letztendlich um eine Willkür in der Anwendung einer für die Entscheidungsfindung wesentlichen Norm. Mit dem Rechtsgedanken der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) lässt es sich nicht vereinbaren, dass einer Partei die "Gnade des Gerichts" infolge Nichtbefolgung der Norm des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu Gute kommt, der anderen Partei nicht. Wenn also nicht die Rechtsprechung von dieser aus "Gerechtigkeitserwägungen" erfolgten unterschiedlichen Handhabung der Norm abweicht, ist der Gesetzgeber berufen. Er würde ohnehin allen Prozessbeteiligten einen Gefallen tun (und auch den massiven  - auch für die Gerichte arbeitsintensiven -  Anstieg von Anträgen nach § 320 ZPO Einhalt gebieten), wenn er den Nachweis für die tatsächliche Unrichtigkeit unter Bezugnahme auch auf Vortrag der Parteien in Schriftsätzen zulassen würde; in diesem Fall müsste eben eine Abweichung von diesem Vortrag in der mündlichen Verhandlung im Protokoll gemäß § 510a ZPO aufgenommen werden.